Kanada

  • Hanser
  • Erschienen: Januar 2012
  • 1
  • : Hanser, 2012, Titel: 'Kanada', Seiten: 464, Übersetzt: Frank Heibert
Kanada
Kanada
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Wolfgang Franßen
961001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2012

Zurückgelassen

Wie sehr sich Richard Ford als Schriftsteller entwickelt hat, spüren wir, wenn wir seinen neuen Roman mit "Ein Stück meines Herzens" und dem Debüt "Verdammtes Glück" aus dem Jahr 1998 vergleichen. Hier wie dort stehen Verbrechen im Mittelpunkt seiner Geschichte. Orientiert er sich in "Verdammtes Glück" noch an einer literarischen Crime Novel, zeigt sich in dem ein paar Jahre später erschienen Sumpfdrama "Ein Stück meines Herzens" bereits, dass sich hier ein Schriftsteller auf den Weg macht, angesichts eines Verbrechens das Psychogramm einer Familie zu ergründen. In "Kanada" nun erzählt er von einem Bankraub in den 60ern und errichtet eine erschütternde Kulisse, um den Riss im Leben eines fünfzehnjährigen Zwillingspaars nachzuspüren, der sie für das restliche Leben zu dem macht, was es ihnen zu leben bleibt.

Nach knapp 230 Seiten ist alles über den Banküberfall erzählt, den ihre Eltern so kläglich vorbereiten, dass sie gleich geschnappt und hinter Gittern gesteckt werden. Die Zwillinge bleiben sich selbst überlassen zurück. Doch bei Ford geht es nie nur um Einzelschicksale. Es geht immer um ein Land, in dem die Menschen sich nicht zurechtfinden. Ein Land, das nicht mehr die innere Kraft aufbringt, seine Familien zusammenzuhalten. Es spuckt sie wie Fremde aus und lässt sie ihrer Wege ziehen.

Wir erinnern uns bis ans Lebensende daran, wie unsere Eltern sich trennten. An den Tag, an dem jemand starb, einer uns verriet. An den Moment, in dem wir glücklich waren und der nie zurückkehrte. Jedes Detail brennt sich ein. Niemand versteht so geheimnisvoll alltäglich davon zu erzählen wie Richard Ford. Oft ist es das Nichtige, was sich in die Seelen seiner Helden brennt. So wie Bev Parson, ein ehemaliger Offizier der Luftwaffe, und seine Frau Neeva, eine Lehrerin, aus purer Not zu Bankräubern werden, und dabei so naiv vorgehen, dass ihnen nicht einmal ein paar Tage bleiben, die spärliche Beute zu genießen. Das Unheil hat schon Jahre vorher begonnen, doch um die Kinder schließt sich mit der Tat der eiserne Griff einer Welt, die sich für sie nicht interessiert.

Wir sprechen so gerne von der kriminellen Energie, die manches Verbrechen erst möglich macht. Ford gelingt das Kunststück, ein Leben am Rande der Armut zu zeichnen, in dem es fast folgerichtig ist, sich gegen die Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen, in dem man mit gestohlen Rinderhälften handelt und sich tiefer und tiefer verstrickt, bis man glaubt, nur ein Befreiungsschlag könne einen aus der Misere befreien. Solange die Eltern da sind, werden ihre Kinder zu deren Chronisten ihres Scheiterns. Alleingelassen sind die Stunden, die ihnen bleiben, von erschütternder Hilflosigkeit. Die Szene, in der die Geschwister aus lauter Verlorenheit miteinander schlafen, ist von solch bohrender Sucht nach Nähe, weil hier ein Autor nur zuschaut, statt sie mit Moral zu befrachten. Am nächsten Morgen wird Berner einfach auf die Straße hinausgehen und aus dem Leben ihres Bruders verschwinden. Auch sie lässt ihn zurück.

Wie soll ein Sohn eine Tochter, etwas fassen, für sich verarbeiten können, wenn die Beweggründe nicht zu begreifen sind? Wie soll der Moment einer irrsinnigen Überreaktion erklärt werden? Gleich am Anfang ist klar, die Mutter wird sich im Gefängnis umbringen, der Vater ist längst gebrochen. Richard Ford erzählt von Verstörungen, die überlebt werden, um neue Risse in die Überlebenden zu sprengen.

Die Wurzel all des Unheils liegt darin, dass zwei Menschen eine Familie gegründet haben, die nicht zueinander passten, die beieinander geblieben sind und ihre Enttäuschungen jeden Tag geschultert haben. Ausgerechnet in Great Falls, in einem Nest, dessen Bewohner nach der Inhaftierung der Eltern nichts Besseres zu tun haben, als zwei Kindern eine Zeitung vors Haus zu werfen, damit sie ihre Eltern unter einer dicken Schlagzeile auf einem Foto sehen können.

Nicht zum ersten Mal bedient Ford sich eines Kinderblicks, um in der Welt der Erwachsenen den Verwerfungen und Lebenslügen nachzuspüren. In "Wild Leben" war es der sechzehnjährige Joe, der das Zerbrechen der Eltern miterleben durfte. Auch dort wird versucht, etwas zu begreifen, was längst geschehen ist.

Dell fügt sich in sein Schicksal, begehrt nicht auf, indem er wie seine Schwester wegläuft. Als vertraue er einer geheimen Macht, einer Logik, die sich ihm später einmal erschließt. Er wird von Mildred, einer Freundin der Mutter, nach Kanada über die Grenze geschleust. In ständiger Angst, in ein Waisenhaus gesteckt zu werden. Sich selber überlassen, in der Geisterstadt Partreau lebend, lernt Dell, der so wissbegierig ist, immer zur Schule gehen will, in mitten von Menschen, die kaum mit ihm sprechen, dass das Leben im Fluss bleibt. Dass das Umschlagen von Wetter und Licht auch in ihm Veränderungen bewirkt. Dass dies auch geschieht, wenn nichts geschieht. Dass vieles nur solange eine feste Größe ist, wie man ihm Bedeutung zumisst. So rettet er sich.

Doch das heißt nicht, dass er davonkommt. Dass einmal erlebtes Unheil einen vor weiterem bewahrt. So verwundert es nicht, dass der 66jährige Dell alles noch einmal aufschreiben muss. Um jenen Arthur Remlinger in Saskatchewan von sich fernzuhalten, der ihm in Kanada eine Zuflucht gewährte, um dessen Morde zu verarbeiten, bei denen er nicht nur Zeuge war, auch noch beim Beseitigen der Leichen helfen musste.

In seinem größten Erfolg "Unabhängigkeitstag", in dem Fords Serienheld Frank Bascombe - "Der Sportreporter" – sich mit seinem Sohn auf eine Reise durch Amerika begibt, um seine Rolle als Vater zu finden, gibt es die amerikanische Familie bereits nicht mehr im klassischen Sinne. Die Frage ist, ob es sie je gab. In Dell findet Bascombe seinen jugendlichen Vorläufer, der sich sagt, fall nicht auf, tu deine Arbeit, hoffe darauf, dass es von alleine besser wird und passe dich an.

Als er noch in Kanada ist, schreibt ihm seine Schwester Berner einen Brief, um ihm zu verraten, wo sie steckt, und ihm anzubieten, zu ihr zu kommen. Doch die beiden werden sich nur noch einmal wiedersehen. In einer Shopping Mall in Minneapolis. Berner von Alkohol und Krebs zerfressen, Dell eingesponnen in einen Kokon des Standhaltens. Ganz nach dem Motto seines Vaters, dass man das Leben einfach hinnehmen muss.

Richard Fords meisterhafter Roman über das Unheil berührt. Er braucht kein Pathos. Er braucht keine überzogene Dramatik. Er erzählt von den Dingen, die sich nicht aufhalten lassen und die wir nie verstehen werden.

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