Zwischen Schein und Wirklichkeit
Jugoslawien Anfang der neunziger Jahre: Dem Land droht der Zerfall, Krieg herrscht und die politische Realität hinterlässt selbst in den Spielen der Kinder ihre Spuren: Mit Barbies, verehrten Statussymbolen aus dem Westen, wird ausgedrückt, wir die junge Protagonistin und ihre Freundinnen den Krieg erleben. Erschreckend und gleichzeitig grotesk beschreibt Maša Kolanović, wie sie ihre Kindheit zwischen Barbie-Scheinwelt und ständiger Kriegsbedrohung erlebt hat.
Die junge Ich-Erzählerin, ein Mädchen von etwa 10-12 Jahren, kann sich als stolze Besitzerin einer echten Mattel-Barbie bezeichnen, was in den achtziger Jahren in einer Hochhaussiedlung in Jugoslawien keinesfalls selbstverständlich war. Eine echte "Crystal Barbie", welcher nun noch weitere Barbies folgen sollten. Eine "Day to night Barbie", deren Outfit man von der toughen Geschäftsfrau zum nächtlichen Vamp verwandeln konnte, mehrere "Skippers"( = nixenartige Strandbarbies) und eine "Tropical". Je mehr Zubehör dabei war, desto größer war die Freude und die Anerkennung bei den Klassenkameraden. Und was dann noch zum ultimativen Spielglück fehlt, wird durch Kreativität ausgeglichen: Rote Schuhe werden zum Ferrari oder Legosteine zu Hochzeitsgeschenken umfunktioniert.
Typisches Kleine-Mädchen-Spiel, könnte man bis hierhin meinen, doch der Inhalt der Spielszenarien offenbart, so lässt sich zumindest hoffen, einen großen Kontrast zu den üblichen Glamourträumen normaler Barbiespiele.
Regelmäßig nach der Schule oder während der häufigen durch Luftalarm veranlassten Aufenthalte im Keller (Underground) des Hochhauses verbrachten Stunden, werden die Barbies zum Leben erweckt und erleben ihre eigenen Abenteuer: Eine Überzahl weiblicher Barbies und ein stark lädierter, unechter Ken, von den Kindern nach einer Serienfigur Dr. Kafješ benannt, durchleben eine Wirklichkeit, die mehr Grausamkeit beinhaltet, als man Kindern in dem Alter zu kennen zutraut. Komplizierte Liebesbeziehungen sind nur der Anfang, brutale Vergewaltigungen und sexuelle Handlungen und Kriegsszenarien das weitaus Schwerwiegendere:
"Plötzlich war die Festhalle erfüllt von Geschrei, und bald sah ,am überall nichts als Leichen. Leblose Barbiekörper, die beiden Skipper, die Bäuerin, deren Zöpfe von den Schüssen durchlöchert waren, die beiden brutal ermordeten Legomänner, alle lagen sie in einer rosarot verdünnten Blutlache um den großen Leichnam der kahlköpfigen Säuglingspuppe, die nun keinen Kopf mehr hatte."
Die Barbies sind für die Kinder mehr, als nur totes Spielzeug, sie geben ihnen Seele, Gefühle und Charaktere, die sie durch ihre eigenen Empfindungen und Erlebnisse füttern. Die Barbies kommt eine therapeutische Funktion zu, die den Kindern hilft, die traumatischen Ereignisse ihrer Kindheit zu verarbeiten.
Maša Kolanovićs Roman widmet sich auf naive und unbefangene Weise, eben durch die Augen eines Kindes, einem Thema, welches ernster und schrecklicher kaum sein könnte: Dem Krieg mit seiner geballten Grausamkeit und Brutalität, voller Angst und Ungewissheit.
Durch die Verlagerung der Realität in die Scheinwelt der Barbies, die normalerweise Glamour und heile Welt darstellt, entsteht eine skurrile und groteske Atmosphäre, durch die das Thema eine gewisse Distanz bekommt, was einerseits einen offeneren Umgang bewirkt, was jedoch auf Kosten die Ernsthaftigkeit geschieht. Mehrere Male kommt beim Leser die Frage auf, ob Kinder im Alter der Protagonistin wirklich derartige Phantasien entwickeln:
"Auf der Besuchsliste ganz oben stand das Schlafgemach von Dea's Barbie und Ana's Mr. Ken. Für Kafješ war endlich der Moment gekommen, ihm alle Knochen zu brechen , sein Herz auszuquetschen und das Blut genüsslich durch einen Strohhalm zu schlürfen".
Ähnliche Passagen kommen gehäuft vor, wirken redundant und verfehlen ihr Ziel, indem sie eher gewollt und gezwungen wirken. Immer mehr bekommt der Leser den Eindruck, die Handlung dreht sich im Kreis und die Szenarien der Barbies wiederholen sich. Da helfen auch die vielen Skizzen nicht, die das Buch durchgängig gestalten.
Alles in allem ist der Roman Underground Barbie von Maša Kolanović zwar mal etwas komplett anderes und verdient sicherlich eine Chance, dennoch können die beinahe 200 Seiten, die der Roman umfasst dafür schon sehr lang werden...
Deine Meinung zu »Underground Barbie«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!