Zufall, Schicksal oder Gott
Als selbstoptimierter Mensch haben wir unser Leben heute gern im Griff. Wir planen jeden Schritt in allen Einzelheiten und zermartern uns den Kopf, um bloß die richtigen Entscheidungen zu treffen. Jenny Erpenbeck wirft in ihrem neuen Roman "Aller Tage Abend" nun einen ganz anderen Blick auf unser Leben. Hängt der Verlauf unseres Lebens nicht häufig einfach vom Zufall ab? Kann unser Leben nicht durch einen winzigen Zufall eine ganz andere Richtung einschlagen?
Jenny Erpenbeck findet für diese Fragestellungen einen beeindruckenden Kunstgriff. Sie lässt ihre Protagonistin, die das 20. Jahrhundert erlebt und erleidet, fünf Mal sterben und hebelt unsere Lesegewohnheit, eine fiktive Geschichte als zwangsläufige Entwicklung zu betrachten, immer wieder aus.
Die 1967 in Ostberlin geborene Autorin, die aus einer Schriftstellerfamilie stammt und in dem Roman auch ihre eigene Familiengeschichte berührt, unterteilt ihren Roman in fünf Bücher. Mit einem geschickten Intermezzo, das die Geschichte in eine neue Richtung lenkt, leitet sie jeweils zum nächsten Buch über.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stirbt in einem galizischen Städtchen ein Baby, sein verzweifelter Vater, ein kleiner k.u.k-Beamter, wandert nach Amerika aus und seine Mutter wird Prostituierte. Aber könnte es nicht auch ganz anders sein?
So heißt es einmal in "Aller Tag Abend": "Eine ganze Welt aus Gründen gab es, warum ihr Leben nun an ein Ende gekommen sein könnte, wie es gleichzeitig eine ganze Welt aus Gründen gab, warum sie jetzt noch am Leben sein könnte und sollte."
Also das Baby lebt, die Familie geht nach Wien, leidet erbärmlichen Hunger, und das inzwischen junge, einsame Mädchen begeht verzweifelt Selbstmord. Oder doch nicht?
Sie lebt, wird Kommunistin, geht nach Moskau, beginnt zu schreiben und stirbt im GULAG.
Oder doch nicht? Sie führt in der DDR ein erfolgreiches Leben und stirbt als hoch geehrte Schriftstellerin.
Oder erlebt sie noch den Mauerfall?
Jenny Erpenbecks Roman, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012 stand, ist auch ein Familienroman: Er erzählt eine Familiengeschichte, an deren Anfang und Ende eine Lebenslüge steht. Ebenso wie die jüdische Großmutter ihrer Tochter verheimlicht hat, dass ihr Vater von Antisemiten im Blutrausch ermordet wurde, erzählt die Protagonistin und Enkelin, die in Moskau und der DDR lebt, ihrem Sohn nicht, dass sein Vater dem stalinistischen Regime zum Opfer fiel. Die Lebenslüge nistet sich als Element der Entfremdung in der Familie ein.
Jenny Erpenbeck spielt in ihrem Roman mit den kleinen, kaum merklichen Zufällen, die über Leben und Tod entscheiden können. Wie etwa das prachtvolle rote Haar der Heldin, an das sich der Genosse in Moskau erinnert, als er ihre Akte vom linken Aktenstapel auf den rechten legt und damit ihr Leben rettet.
Natürlich mag man sich fragen, wo in diesem Roman persönliche Verantwortung, Schuld und Zivilcourage ihren Platz haben. Macht es sich die Autorin nicht zu leicht, wenn sie dem Zufall eine tragende Rolle in unserem Leben einräumt? Aber das ist einfach nicht die Frage, die Jenny Erpenbeck in "Aller Tage Abend" stellt. Sie fragt nach der Rolle, die der Zufall in unserem Leben spielt, und das gelingt ihr auf ungewöhnliche Weise.
Woody Allen hat mit "Match Point" einen wunderbaren Film über den Zufall gedreht, aber was den Roman von Jenny Erpenbeck so besonders macht, ist ihre Kunst, den Zufall im Werk selbst in Szene zu setzen. Und es ist ihrer sprachlichen Virtuosität zu verdanken, dass es ihr – ähnlich wie Tom Tykwer in "Lola rennt" und doch ganz anders – gelingt, den Leser nach jedem Tod der Protagonistin wieder mitzunehmen, froh, dass diese dem Tod noch einmal ein Schnippchen geschlagen hat.
"Alle Tage Abend" beeindruckt nachhaltig durch Szenen intensiver Wucht. Den gewaltsamen Tod des Großvaters, den erbärmlichen Hunger in Wien, die kommunistische Selbstkritik oder die Heldin, die sich in Sibirien ihr eigenes Grab schaufelt, wird der Leser so schnell nicht vergessen.
Die Autorin versteht es, kunstvoll zwischen den Perspektiven der Personen zu wechseln und Ton und Stil der geschilderten Situation anzupassen. So heißt es über den Herbst 1989:
"Im Herbst neunundachtzig fällt die Wand zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil Deutschlands, umgerannt wird sie, übersprungen, niedergemacht, die Volksmenge, die in Aufruhr geraten ist, stürzt aus dem eigenen Land hinaus und sinkt den kapitalistischen Brüdern und Schwestern in die Arme, Freudentaumel, vergisst sich, ein ganzes Staatswesen entleert sich, übergibt sich, wem eigentlich übergibt man sich, wenn man sich übergibt, übergibt die Gewalt, die Staatsgewalt, und sackt dann in sich zusammen, ist hin."
"Aller Tage Abend" reißt durch seinen Sprachrhythmus mit. Man merkt es dem Roman an, dass Jenny Erpenbeck auch als Theaterregisseurin für Oper und Musiktheater arbeitet. Es ist diese Musikalität der Sprache, die "Aller Tage Abend" trotz all der düsteren Geschehnisse einen heiteren Grundton verleiht.
Mit "Aller Tage Abend" ist Jenny Erpenbeck ein sprachlich kunstvolles, spannendes und heiteres Buch über eine Familie, über die Wirren des 20. Jahrhunderts und über den Zufall in unserem Leben gelungen. Unbedingt lesenswert.
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