Nicht jeder kann Tiger sein
Soviel vorweg: Matthias Zschokkes "Der Mann mit den zwei Augen" gehört in jedes Bücherregal. Warum? Weil es ein Geniestreich ist, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Schnöde beginnt die Geschichte um den Mann mit den zwei Augen. Bob nennt er sich zwischendurch – aber nur der Einfachheit halber. Alles geschieht der Einfachheit halber. Der Mann mit den zwei Augen möchte am liebsten gar nicht sein, ist dann jedoch so sehr er selbst, von Gedanken getrieben, von Ängsten und romantischen Träumen gar, dass er vom blassen Nichtsnutz mit Selbstmordfantasien zum Philosophen mutiert. Zu welchem? Zum hämmernden Nietzsche oder zum bohrenden Hegel. Das bleibt offen – wie so vieles in diesem großartigen Buch.
Mit "Lieber Niels" (2011) ist dem gebürtigen Schweizer Matthias Zschokke bereits ein Roman gelungen, der weniger Roman als vielmehr eine Umkehrung von innen nach außen ist. Auch der Mann mit den zwei Augen stellt sich bloß, sich, sein Leben und alles um sich herum. Auch die Frau an seiner Seite, er hat versäumt ihr das "Du" anzubieten, fügt sich seiner vermeidlich blassen Welt. Mehr – oder weniger – als 30 Jahre lang teilen sie sich eine Wohnung und haben sich doch nichts zu sagen – oder ganz viel, alles? Manchmal schlafen sie miteinander, er gibt ihr Namen und dann leben sie wieder vor sich hin. Scheinbar stumm. Ohne Inhalt, als hätten sie Angst, Inhalte könnten verderben.
Als der Mann mit den zwei Augen noch ein junger Mann mit zwei Augen war, hat er nicht lernen wollen. Sein Kopf sollte frei bleiben, rein, unverbildet, natürlich. Erst im Erwachsenenalter habe er langsam zu denken begonnen – dann aber richtig. Sodomie ist ein Thema und von "hinten genommen werden". Kaum erwachsen, lässt er nichts mehr aus und manchmal stört es ihn sogar, dass sich nie einer an ihn erinnert. Zu durchschnittlich ist sein Gesicht, weil es neben zwei Augen auch noch eine Nase und einen Mund aufweist. Zschokke spielt mit den Selbstverständlichkeiten, er nimmt sie mit Humor und lässt auf diese ganz besondere Art, den Mann doch etwas ganz besonderes sein.
Als nicht nur die Katze der Wohngemeinschaft stirbt, sondern auch die Frau, deren Name von Zeit zu Zeit wechselt und der nie der richtige zu sein scheint, geht der Mann weg. Trennt sich, außer von ein paar Besonderheiten, von allem Hab und Gut. Schnappt seinen Koffer und zieht los, um zur Ruhe zu kommen. Der Weg zur Ruhe ist laut. Dreckig auch und uneben. In einem fiktiven Ort macht er halt, schläft mit einem jungen Mädchen und freundet sich (falls es Freundschaft im Leben des Mannes mit den zwei Augen überhaupt gibt) mit einer Tresenfrau namens Rosaura an. Er erzählt ihr von seinen Selbstmordfantasien. Der Selbstmord bleibt Kopfkino, aber nur, weil sich keiner finden lässt, der den Leichnam vom Seil knüpft und die Beerdigung in die Wege leitet.
Wirkt Zschokkes Protagonist auch oftmals grob, ist er doch einer feiner Kerl. Einer, der zunächst an der Welt zu verzweifeln scheint und letztendlich mit der Bardame hinterm Tresen steht und Biergläser spült.
Vielleicht ist der "Mann mit den zwei Augen" geschaffen dafür, den Menschen zu sagen: "Nehmt euch alle nicht zu ernst. Ihr alle gleicht einem Fliegenschiss auf diesem Planeten." Und dennoch gibt es sie, die handvoll Menschen, die eine Katze, der eine Hund (der in diesem Roman ein abscheuliches Ende findet), die einem ein Leben lang in Erinnerung bleiben, sich ein bisschen einem selbst nähern, und im besten Fall ein Stück des Lebens gemeinsam gehen. Dabei kann nicht jeder Tiger sein, wie der Mann feststellt, was ihn irgendwann nicht mehr zu stören scheint. Auch nicht, dass seine Frau (der Einfachheit halber wird sie jetzt mal als seine Frau beschrieben) sich mit Morphin umbringt, was einst das Geschenk eines Freundes war.
Zschockkes Roman steckt voller kleiner Feinheiten. Und klug ist er geschrieben. Überaus klug. Finden sich darin nicht nur Gedankengänge scheinbar farbloser Menschen, sondern auch Annäherungen an große römische Feldherren, an Themen wie Wahrheit und Lüge, an Lebensangst und Lebenslust, an Leben und Tod.
Dabei spielen Zeitebenen keine Rolle. Zschokke springt hin und her, was nicht verwirrt, sondern für noch mehr Spannung sorgt. Gleich zu Beginn des Romans lässt er die Leser wissen, dass die Frau sterben wird. Der Leser weiß es. Die Frau ist ahnungslos.
Die Sprache des Wahlberliners hat etwas Magisches – wie auch sein Mann mit den zwei Augen, der vom sprachlosen Sonderling zum wortgewandten Gesellschaftskritiker mutiert. Dazwischen geschehen kleine Dinge, die, bei genauerer Betrachtung, ganz groß sind. Wie der Roman auch.
Sehr zu empfehlen.
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