Wer will schon ein Narr sein?
So ist das also in der Kunst, blase eine Fotografie von einem halbaufgegessenen, abgepackten Ei-Kresse-Sandwich zu einer immensen Größe auf, ist dies nicht länger nur ein Foto sondern gleich ein Kunstwerk im Stile eines Gemäldes wie "Das Floß der Medusa". Der Journalist Jeff Atman treibt sich auf der Biennale in Venedig herum. Mit seinen Augen verfolgen wir das Treiben von Künstlern, zur Kunst berufenen Händlern, Käufern und all dem Gesocks, das sich auf solchen Messen herumtreibt. Es ist Party angesagt. Es lebe der Smalltalk. Kunst wird en masse goutiert.
Jeff, vom Irakkrieg angeekelt, soll eine Schauspielerin interviewen, die ihren Zenit überschritten hat. Es ist ihr nur noch nicht ganz zu Bewusstsein gekommen. Sie spielt ihre Rolle im Leben einfach zu perfekt, als dass sie sich nicht weiterhin als Diva behandeln lassen will. Der Star lässt sich zu einem Interview bewegen, das sogleich anders verläuft, weil es unter Drogeneinfluss geführt wird. Dyer gelingt hier ein amüsanter Schlagabtausch zweier Menschen, die sich mit dem Spiel der Medien auskennen, Erwartungen bedienen können und sie am liebsten zum Teufel jagen würden.
Die beiden Teile des Romans haben nur scheinbar nichts miteinander zu tun. Im ersten dreht sich alles um das Event. Wie errege ich Aufmerksamkeit für mich, für mein Produkt, wie schaffe ich es oben zu schwimmen? Was Jeff schon lange nicht mehr will. Lieber stellt er Laura nach, deren Anziehungskraft er für sich daraus bezieht, dass er sie nicht gleich haben kann und wieder im Messetrubel verliert. Sie findet jedoch ihn, will Sex und trägt danach nicht mal mehr beim Frühstück Unterwäsche. Wichtig ist nur, dass die besudelte Kleidung vor der nächsten Party gewechselt wird, wo dann wieder ein Drogenrausch wartet.
Dass dies nicht zu einer Seifenoper mit Kunst-Touch verkommt, liegt an dem 1957 in Cheltenham geborenen britischen Autor Geoff Dyer. Scharfzüngig zuweilen legt er nicht nur die Plastikwelt des Kunsthandels bloß. Er fragt auch nach einem Leben im Überflug, abseits jeglicher Suche nach Sinn. Gleichermaßen als westliche Gier sich alles nehmen zu dürfen, solange es einen nur glücklich macht. Bereits in seinem Buch "But Beautiful" gelang es dem Autor den Jazz im Leben der Musiker als Fiktion und Spiel mit den Fakten zu spiegeln.
Sein Roman "Sex in Venedig, Tod in Varanasi" hat nichts mit jener Melancholie einer untergehenden Lagunenstadt zu tun, in die sich Menschen wie Christoph Aschenbach in Thomas Manns "Tod in Venedig" zurückzuziehen, um sich selbst zum Kunstwerk zu erheben. Die Schilderung der belanglosen Gespräche ist Intellektuellen-Trash vom Feinsten.
Doch Dyer hat weit mehr als nur eine bloße Gesellschaftssatire zu bieten. Sein Roman begeht nach 190 Seiten einen Ortswechsel, fordert den Kulturschock geradezu heraus. Vom Glamour in Venedig sehen wir uns mit dem Ich-Erzähler im zweiten Teil ins indische Varanasi versetzt, begegnen wir nicht mehr den Fotografien der Wirklichkeit sondern wirklichen Leichen, die öffentlich verbrannt werden. Bettlern, die sich nicht abschütteln lassen.
Was ist das also, was wir Kultur nennen? Das, was wir uns an die Wände hängen, in den Innenhöfen der Versicherungen als Skulptur aufstellen, um uns ein Bild zu machen? Oder ist es das fremde Leben, dem wir entrückt auf Reisen begegnen und deren direkte Nähe uns schockiert, manchmal gar verändert?
Beide Orte sind dem Tod verschrieben. Venedig wird solange untergehen, wie es die Menschheit gibt, und als Disney-Land, als Sehnsuchtstort für das melancholische Dahinsiechen den Menschen eine Heimstätte bieten. "Varanasi" hingegen soll jener Ort sein, an dem wir Menschenkinder das ewige Rad der Wiedergeburt verlassen können. Wer da die Reise zu sich selbst, zu seinem wahren Inneren antritt, kann als westlicher Ratsucher leicht zum Narren oder Weisen werden. Zwei Orte, zwei Mythen, Menschen die sich mit unterschiedlichem Tempo, unterschiedlicher Zielsetzung dazwischen bewegen.
Geoff Dyer erzählt davon, dass es nicht die Orte sind. Es sind diejenigen, die etwas zu suchen scheinen, die Varanasi wie Venedig zu einem Magneten machen.
Wer will schon gerne streben, wenn er gerade etwas über sich begriffen hat? Geoff Dyer besitzt den Humor, dem Mythos nicht die Maske abzureißen, ihn viel mehr zu streicheln, bis er bröckelt.
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