Nichts Weißes

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Romy Fölck
801001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2012

Die Welt der Schriftzeichen

So intensiv hat man sich lange nicht mit ihr auseinandersetzen müssen, auch wenn man sie fast täglich vor Augen hat - die Schrift. Ulf Erdmann Ziegler zelebriert sie regelrecht in seinem neuen Werk und lässt durch ihre hervorgehobene Präsenz den Blick in eine bisher recht vernachlässigte Welt zu, die der Typografie. Was nach einem Sachbuch klingt, ist doch ein Roman mit biografischen Tendenzen. Die Heldin, Marleen Schuller, verwandelt sich darin von der grauen Maus zu einer hochbegabten "Buchstabenmönchin", die es mit ihrem außergewöhnlichen Geschick als Typografin schließlich bis nach New York schafft.

Aufgewachsen in einer unkonventionellen, hochkreativen Familie im Rheinland interessiert Marleen sich weniger für die Werbestrategien ihres Vaters oder die Grafiken ihrer Mutter, sondern viel mehr für Schriftzeichen und deren perfekte Struktur.

"Die Schrift bestimmt den Sinn all dessen, was wir tun. (…) Schrift ist überall und je mehr wir lesen, desto weniger sehen wir sie."

Anfangs begreift man Marleens Euphorie für diese toten Buchstaben nicht, die sie in regelrechter Sisyfusarbeit entwirft und zu kleinen Meisterwerken erhebt, obwohl sie Legasthenikerin ist. Aber alsbald bekommt die Schrift durch sie doch eine Seele, vermag der Autor uns in den Bann zu schlagen für das zarte Mädchen mit der Begeisterung für Schriftzeichen. So verfolgt man mit wachsendem Interesse Marleens Werdegang, ihr Typografie-Studium, die Praktika, ihre Jobs in Paris und New York und ihr privates Auf und Ab.

Auch Familie Schuller bekommt ihren Raum in diesem Buch, allem voran stehen das familiäre Leben in den 70ern und der Umzug ins eigene Heim nahe Düsseldorf im Mittelpunkt. Marleens Vater, Werbeguru Petrus, legt eine steile internationale Karriere hin und saniert sich mit der Werbung für o.b. ("Ohne Binde") Tampons, was seine höchst frömmelnde Tochter Johanna zu Tränen treibt. Aber plötzlich verschwindet Petrus nach Indien, sagt sich von seinem alten Leben los und findet in einem indischen Aschram zu sich. Zurück in Deutschland bleiben seine Frau und die vier Kinder. Marleens Mutter Lore, die mit dem Verschwinden ihres Mannes kein allzu großes Problem zu haben scheint, sichert sich geistesgegenwärtig Haus und Geld, damit Petrus es nicht in Indien einer Sekte spendet und lässt sich mit dem Gemeindekaplan ein. Alles halb so wild! Die Kinder vermissen Petrus anfangs zwar sehr, wissen aber bald ohne den Vater auszukommen. Allen voran Marleen, die sich im Leben klare Ziele gesteckt hat. "Nicht einmal ihrer eigenen Mutter würde Marleen gestehen, dass sie sich berufen fühlt, eine Schrift zu entwerfen, die alle Vorzüge der existierenden Schriften hat und alle Nachteile Buchstabe für Buchstabe überwindet."

Ulf Erdmann Ziegler erarbeitet präzise und wortgewandt das Leben von Marleen Schuller. Er hat ein feines Gespür für die Persönlichkeit seiner Protagonistin und entwickelt sie konsequent zu einer charismatischen Figur. Anfangs braucht es etwas, um sich Marleen und ihrem großen Traum von der perfekten Schrift gänzlich zu öffnen. Spätestens ab dem zweiten Drittel verfolgt man jedoch interessiert ihre Lehrjahre und die Liebe zu ihrem Kommilitonen Franziskus, der sich, als Marleen ein Kind von ihm erwartet, dem Katholizismus zuwendet.

Ulf Erdmann Ziegler hat ohne Frage eine gute Beobachtungsgabe und schafft mit Leichtigkeit interessante Charaktere. Einige Perspektivwechsel sind etwas abrupt, bringen die Lektüre aber kaum aus dem Gleichgewicht. Oft sind es nur Andeutungen, mit denen der Autor die Geschichte aufpeppt und die Vorstellungskraft des Lesers anregt. Nicht ohne Grund steht der Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012. Vor allem aber vermag der Autor einen völlig neuen, distanzlosen Blick auf die Welt der Schriftzeichen zu eröffnen und sie aus ihrer Alltäglichkeit zu schälen. Der Titel "Nichts Weisses" ist dabei einmal der typografischen Komponente des Romans geschuldet, aber vielleicht auch der Tatsache, dass es in keinem Leben nur Schwarz oder Weiß gibt, sondern dass vor allem die Grautöne maßgeblich sind.

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