Der Schneesturm
- Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: Januar 2012
- 2
- Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012, Titel: 'Der Schneesturm', Seiten: 206, Übersetzt: Andreas Tretner
- -: -, 2010, Titel: 'Metel', Originalsprache
Verweht
Vor die Wahl gestellt, wollen wir lieber der Sonne ausgesetzt sein oder uns im ewigen Eis verlieren, heißt es: lieber verdursten oder erfrieren? Keine wirklich gute Wahl. Dass wir sterben werden, steht außer Frage.
Die Natur schert sich um die Menschheit nicht. Sollte ein Mensch wie der Landarzt Garin auch noch so ein selbstloses Ziel verfolgen und ein vergessenes Serum quer durchs Land transportieren, um eine Stadt vor Zombies zu retten, es schneit und schneit und schneit. Schon hier stellt sich die Frage, wo sind wir eigentlich? Betreibt da ein Autor ein Spiel mit uns? Gaukelt er uns vor, wir befänden uns mitten im Russlands des 19 Jhs., um uns dann wie von George A. Romero in "Die Nacht der lebenden Toten" zu ziehen? Oder befinden wir uns angesichts eines Schneemobils, das von fünfzig winzigen Pferden gezogen werden in "Alice im Wunderland".
Garin und sein motorisierter Kutscher, die vermeidlichen Heilsbringer, treffen Riesen, Zwerge, landen in den Armen einer Frau und verfallen dem Drogenrausch. Das hat trotz aller stilistischen Nähe zu Tolstoi, Turgenjew und Gogol absurde Züge und nicht viel mit der schwangeren russischen Seele zu tun, mit der wir gerne russische Autoren totschlagen.
Was ist das bisschen Sturm schon da draußen? Der hält doch keinen auf. Zumindest keinen gebildeten Menschen. Keinen Arzt. Und wozu sind minderbelichtete Fuhrleute da, als sie zu bezahlen und sie hinaus in den Tod zu jagen? Soll ich mich etwa von meinen erschöpften Pferden davon abhalten lassen, meinen Auftrag zu erfüllen? Weiter geht’s. Hinaus in die schlecht gelaunte Natur geht’s. Ein Mann wie Garin fühlt sich der Oberschicht angehörig. Was er sich in den Kopf setzt, das muss in die Tat umgesetzt werden. Es gilt immerhin eine Stadt zu retten.
Was nehmen wir uns heraus, wenn wir glauben, die Natur besiegen zu können? Da leuchtet im Hintergrund der nackte, Muskel bepackte Oberkörper Putins auf, der nur an die eigene Kraft, den unbezwingbaren Durchsetzungswillen glaubt. Da spielen Allmachtsphantasien eine Rolle. Alle anderen haben sich dem Willen eines Einzelnen zu unterwerfen. Die Frau bleibt zurück, Kosma, der Brotausfahrer spannt die frischen Mini-Pferde an und alle Ermahnungen abzuwarten, wie das Wetter sich entwickelt wird, werden mit leichter Hand beiseite geschoben. Es ist schließlich für einen guten Zweck.
Egal ob Chechov, Dostojewski, Puschkin, Solschenizyn, Aitmatow in kaum einer anderen Literatur tragen die Helden ihrer Romane das Aufbegehren gegen die Natur so tief im eigenen Wesen vergraben. Oft genug sind sie auf der Reise von einem Ort zum anderen oder sammeln gleich "Tote Seelen" wie bei Gogol ein. Es treibt sie um. Nicht selten im Auftrag einer höher gestellten Macht.
Valdimir Sorokin, der 1955 in Bykowo bei Moskau geborene Autor, der als Graphiker, Maler und Dramatiker arbeitete und in den 80er zum "Moskauer Underground" zählte, gilt neben Pelewin und Jerofejew zu den herausragenden Persönlichkeiten einer Schriftstellergeneration, die mit literarischen Formen spielen. "Der Schneesturm" ist jedoch eine linear erzählte Geschichte über das Scheitern an sich selbst. Über das Bersten von Hoffnungen angesichts eines unwirklichen Schneesturms, der alles unter sich begraben wird.
Fein zeichnet Sorokin in seinem russischen Road Movie aus dem 19. Jahrhundert, wie ein Knecht sich einfach einem Herrn überlässt. Ein Arzt allmählich dem Wahn verfällt. Kosma, der Fuhrmann, besitzt leicht oblomowschen Züge. Er kann sich nicht gegen die Ansprüche des Arztes durchsetzen, der sogar soweit geht, ihn zu schlagen. Ein Unglück ruht zumeist auf mehreren Schultern, und wenn am Ende einer von beiden stirbt und der andere gerettet wird, wussten wir schon sehr lange, dass diese Reise nicht gut ausgehen wird.
Sorokin unterzieht dem Realismus eine zweite Ebene. Riesen, die zum Hindernis werden, weil sie wie ein Hügel den Weg versperren. Eine Kufe, die sich in dessen Nase verfängt, so dass der vereiste Kopf mit der Axt aufgeschlagen werden muss, um sie wieder zu befreien. Drogen, die aus einem Arzt einen russischen Don Quichote im Schlepptau seines Sancho Pansas machen. Lebendige Bildern aus einem Radio, die sich zu einer seelischen Irrfahrt zusammensetzen.
Je mehr die beiden Umherirrenden sich vermeintlich dem Ziel nähern, desto mehr erwecken sie den Eindruck, sie bewegen sich im Kreis. Gemächlich das Tempo, auf der Suche nach den eigenen Fußabdrücken, die immer wieder zugeweht werden ist Sorokins Welt das Benzin ausgegangen, der Technik der Strom.
Eines bleibt jedoch: die da unten werden immer unter denen da oben zu leiden haben.
Vladimir Sorokin, Kiepenheuer & Witsch
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