Als ich meine Eltern verließ
- Edition Heidenreich bei C. Bertelsmann
- Erschienen: Januar 2012
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- : Edition Heidenreich bei C. Bertelsmann, 2012, Titel: 'Als ich meine Eltern verließ', Seiten: 160, Übersetzt: Birte Völker
Wie ein Kompass im Leerlauf
Pathos? Kein Stück. Sinnieren? Ganz viel. Tränen? Noch viel mehr. "Als ich meine Eltern verliess" ist das kleine, leise Meisterwerk eines Vaters, der um seinen Sohn trauert, der im Alter von nur 21 Jahren der Purpura fulminans erlegen ist, einer besonders aggressiven Form der Hirnhautentzündung. Michel Rostain ist der Autor des Romans. Und der Vater des toten Jungen. Was das Buch so besonders macht? Der Vater lässt den Sohn erzählen. Er selbst tritt nur als Statist auf, kursiv gedruckt, als Mensch, der der Welt für all sein Unglück in den Hintern treten will. Der Sohn besänftigt und beobachtet - nicht ohne Kritik - seine Eltern und deren Umgang mit Tod und Trauer aus der "Ferne".
Jeder erwachsene Mensch hat sich vermutlich schon einmal seine eigene Beerdigung vorgestellt. Wer kommt? Wer bringt sich ein? Welche Blumen dienen der Dekoration? Gibt es Musik? Wer weint, wer bleibt der Zeremonie fern. Leon, Löwe, wenngleich viel zu früh gestorben, steht neben – oder über – seiner eigenen Beerdigung und hat alles im Blick. Er kommentiert, witzig zuweilen, alles, was ihm passt und was er für überzogen hält. Dabei springt er in den Zeiten, nimmt seinen eigenen Tod vorweg. Sieht die Eltern im "Jetzt" stecken und weiß, dass sie bald eine furchtbare Katastrophe sie aus der gewohnten Bahn schleudern wird. "Bald wird Papa den zweiten wichtigsten Moment seines Lebens erleben, in drei Stunden, meinen Tod." Die Sätze des toten Ich-Erzählers sitzen wie Fausthiebe: "Ende des gemeinsamen Wegs."
Michel Rostains Art, den Tod seines Sohnes zu verarbeiten, wirkt zunächst befremdlich, zumal der Text nicht zu Tränen rührt, sondern auch Lächeln in die Gesichter zaubert. Es ist das Verhältnis der Eltern zu ihrem Sohn – zwischen Geburt und Tod – das eigentlich so lobens- und lebenswert erscheint. Und auf einmal, ganz abrupt, ist alles vorbei. Weil die richtige Diagnose fehlte, vielleicht? Weil der Arztbesuch zu lange auf sich warten ließ, vielleicht? Weil der Vater zu lange im Supermarkt war, vielleicht? Keiner weiß es. Fakt ist: Leon ist tot, "hat den Stecker gezogen. Hat sich abgemeldet. Scheinwerfer aus".
Der reale Michel Rostain, Opernregisseur, Philosoph und Psychologe, zog sich nach dem Tod seines Sohnes zurück. Wollte verzweifeln, erstickte in Tränen, bis sein Sohn ihn zu rufen schien und ein Freund mit ähnlich trauriger Geschichte ihn wissen ließ, "man kann damit leben". Also lebte der in Mende geborene Autor und vermischte seine wahre Geschichte mit erfunden Episoden und lernte mit dem Tod seines Sohnes zu leben.
Dabei wirkt es, die gesamten 155 Seiten hindurch nicht einmal so, als sei der Tod etwas Abartiges, Beängstigendes. Der Vater klagt nicht an, sicher, er sucht nach Antworten, nach Verantwortlichen auch, aber letzen Endes hat er verstanden, dass der Tod ein Teil des Lebens ist. "Der Sinn des Lebens ist ein Vektor", sinniert der Sohn aus dem Off und beschreibt die Situation, in der sein Vater nach seinem Tod steckt: "Nichts weiter als ein Vektor, eine Richtung. Momentan ist nichts mehr mit Pfeilen gekennzeichnet, sein Kompass hat Leerlauf."
Was weniger zum Tod passt, sind die Geschäftemachereien der Bestattungsunternehmer, die wie in dem wunderbaren Roman "Tod in Hollywood" (von Evelyn Waugh) absonderliche Todesfratzen erstellen. Um die Bearbeitung und Herrichtung der Leiche kommen auch Leons Eltern nicht herum. In ihrer tiefsten Trauer müssen sie sich den Fragen der Beerdigungsleute stellen. Etwas muss sein, vieles kann sein und vieles auch nicht. Eltern und Freunde gehen ihren Weg, feiern – ja sie feiern – eine unkonventionelle Beerdigung, improvisiert, ohne festen Ablauf. Leon gefällt`s.
Der Leichnam wird verbrannt. Die Asche landet in einer Urne, später auf dem Friedhof. Ein paar Messerspitzen voll Leon allerdings nehmen die Eltern an sich und reisen später damit nach Island. Dort wird es theatralisch, wie inszeniert. Löwen – wie sollte es anders sein – spielen darin eine besondere Rolle. Und ein Vulkan, der 2010 tatsächlich ausbrach und für unzählige Versprecher in den Nachrichtensendungen sorgte: Eyafjatlajökudl. Wenn Leon was macht, dann richtig!
Michel Rostain wird nie aufhören, um seinen Sohn zu trauern. Aber ihm ist etwas gelungen, dass von unglaublicher Stärke zeugt: Er hat seinem Sohn ein Denkmal in Form eines Romanes gesetzt, das nicht von Verzweiflung zeugt, sondern von Leben, Lieben und ganz viel Humor. "Was man tatsächlich in diesem Frühjahr dort oben am Himmel sieht? Lediglich meine Asche, die wieder etwas mehr verschwindet. Der Rest dient dem Aufbau dieses Romans. Das ist mehr als nichts. 31. Mai 2010."
Michel Rostain, Edition Heidenreich bei C. Bertelsmann
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