Ein paar Verrücktheiten und eine Menge Schimpfwörter
Der Verrückteste sei er nicht, nur der Zweitverrückteste: Bernhard Hval, angehender Arzt und mit einem immensen Fundus an Schimpfwörtern gesegnet, trifft auf den außergewöhnlichen Notto Fipp. Der findet sein Glück darin, zu gehen. Fasziniert von der Skurrilität Fipps lässt Hval seine eigene Verschrobenheit voll zur Blüte gelangen und lebt für kurze und intensive Momente eine unglaubliche Freundschaft mit Notto Fipp. Davon erzählt der nunmehr betagte Arzt den Lesern in einer Art Rückschau auf sein Leben. Es wird dem Leser jedoch schwer fallen, die von Hval gewählte Reihenfolge in Sachen Verrücktheit nachzuvollziehen. Denn die Begegnung mit Fipp bringt beim Arzt Ticks an den Tag, die er bis zu diesem Moment mit wenigen Ausnahmen zu verbergen wusste.
Soweit also die Ausgangslage für einen ganz und gar ungewöhnlichen Roman. Lars Saabye Christensen nutzt jeden Spielraum, den ihm diese Geschichte gewährt. Er lässt keine Verrücktheit aus und tobt sich auf dem Parkett der Phantasie aus. So sehr, dass die Leser oft an Grenzen stoßen und wohl der eine oder andere geneigt ist, den Roman kopfschüttelnd beiseite zu legen. So einfach geht das denn aber doch nicht. Denn hat der verrückte Bernhard Hval erst mal seine Schlingen ausgeworfen, lässt er kaum mehr jemanden daraus entwischen. Von seiner Erzählung geht eine eigentümliche Faszination aus, die selbst vom exzessiven Gebrauch von Schimpfwörtern und Sex-Ausdrücken nicht gebrochen wird.
Trotz des ungewöhnlichen Konstrukts bewegt sich Lars Saabye Christensen mit seiner ungebremsten Freude an schmutzigen Ausdrücken auf einem sehr dünnen Eis. Es braucht eine dicke Haut, um angesichts der vielfach angerufenen Fotzen und Schwänze nicht in Langeweile abzudriften. Leider geht bei diesem Kokettieren mit "schmutzigen", meist schlicht primitiven, Wörtern die eigentliche Feinheit des Romans etwas unter. Saabye lässt Bernhard Hval im Prinzip eine höchst poetische und eindrückliche Geschichte erzählen. Es sind Lebenserinnerungen, die von psychischen – und physischen – Verletzungen in der Kindheit berichten, die sowohl Hval als auch Fipp erlitten, wenn auch auf einem jeweils anderen Niveau. Beide Protagonisten haben die Erlebnisse der Kindheit in einen absolut speziellen Charakter umgewandelt, der im jeweils anderen ein bestimmtes Echo auslöst und zu einer eigentümlichen Freundschaft führt.
Die größte Überraschung des Romans verbirgt sich in der kurzen Danksagung des Autors: Hier erfährt der Leser, dass es sowohl über das Schicksal von Notto Fipp als auch über die Obduktionen des Arztes Bernhard Hval Schriften gibt, die Lars Saabye Christensen für seine eigene Geschichte herangezogen hat. War der Leser über 600 Seiten lang überzeugt, einer reinen Fiktion zu folgen – entworfen in einem wohl kreativen aber auch auf Provokation bauenden Kopf – muss er seine eigene Einstellung zu Hval und Fipp nun überdenken. Die Grenzen zwischen der erfundenen Geschichte und den tatsächlichen Ereignissen verschwimmt ebenso, wie die Grenzen zwischen Faszination und Überdruss im Laufe der Lektüre verschwommen sind. Lars Saabye Christensen und seine Erzählung sind nicht greifbar, haben keine klaren Konturen und sind doch unglaublich präsent.
Obwohl Hvals Zwang, Schimpfwörter zu brauchen, ein wichtiges Element des Romans darstellt, hat der Autor hier zu stark mit der Provokation gespielt. Das nimmt der Geschichte etwas von ihrer Ausstrahlung. Denn "Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval" hat durchaus das Potenzial, in die Liste jener Romane einzuziehen, die man gelesen haben sollte.
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