Der Kreislauf von Leben und Tod
Zieht man sich nach einem bewegten Arbeitsleben auf seinen Alterswohnsitz zurück, wird man dies wohl mit einem lachenden und einem weinenden Auge tun. So auch Pensionär Joe Allston. Er war viele Jahre als Literaturagent tätig und lebt, nachdem er den Job an den Nagel hängte und dem aufregenden Leben der 60er Jahre an der Ostküste den Rücken kehrte, mit seiner Frau Ruth auf einem Grundstück in den Hügeln Kaliforniens. Nach dem Tod seines Sohnes vor drei Jahren sucht er hier in der Abgeschiedenheit nach Linderung. Bequeme Abläufe bestimmen fortan seinen Tag, mit Begeisterung bestellt er seinen Garten und drängt das Unkraut zurück, was ohne sein Tun das Grundstück überwuchern würde.
Aber die Idylle trügt. Nicht nur der ruhestörende Nachbar im Norden erweist sich bald als Übel, sondern auch Peck, ein junger Hippie, der Allstons Grundstück als idealen Ort für seine Meditationen erachtet. Als Peck auf dem Grundstück campen möchte, entbrennt ein Kräftemessen zwischen dem Hausherrn und dem langhaarigen Guru, der Joe sehr an seinen verstorbenen Sohn Curtis erinnert. Curtis begehrte wie Peck gegen ihn und das Establishment auf, verschmähte seine Liebe und setzte sein junges Leben gehörig in den Sand. Bei Joe Allston läuten sofort die Alarmglocken, als er dem selbstgefälligen Peck gegenüber tritt. Der nistet sich nach Joes zähneknirschend erteiltem Einverständnis auf einem abgelegenen Teil des Grundstücks ein. Doch schon bald nutzt er die Gutmütigkeit der Allstons schamlos aus, hängt sich ohne zu fragen an deren Stromleitung und den Brunnen und bringt ohne Erlaubnis einen eigenen Briefkasten an. Er gründet auf dem Grundstück die "Universität des befreiten Denkens", konsumiert Drogen und feiert ausgelassene Partys.
Jedoch nicht dieser Hippie, sondern der Zuzug der jungen Familie Catlin soll das Leben der Pensionäre völlig durcheinander wirbeln.
"Ruth und ich haben uns ein Leben lang bedeckt gehalten und unsere Zurückgezogenheit genossen, wir neigten eher dazu, Menschen erst einmal abzulehnen – so wie ich es wohl mit Peck gemacht habe –, statt sie auf Anhieb zu mögen. Aber von Marians Liebenswürdigkeit wurden wir erfasst wie von einer ansteckenden Krankheit."
Sie schließen die schöne Nachbarin Marian in ihr Herz, die mit ihrer offenen Art und übersprudelnden Lebendigkeit ihre Tage erhellt. Die Freundschaft nimmt bald familiäre Züge an, bis die Allstons eines Tages erfahren, dass die schwangere Marian an Brustkrebs erkrankt ist und mit dem Tod ringt. Hilflos müssen die beiden mit anschauen, dass ihr Frieden nicht nur durch die ständigen Provokationen von Peck, sondern vor allem durch die Verlustängste um Marian bedroht ist.
Immer wieder schlägt Stegner im Roman einen Bogen zwischen Leben und Tod. Ob es für Joe Allston die Aufarbeitung von Curtis´ Tod und das Ringen mit den alten Geistern nach dem Auftauchen von Peck ist, ob die Hilflosigkeit angesichts der vor seinen Augen dahinsiechenden Marian oder das eigene Lebensende, dem er als Pensionär langsam ins Auge sieht: Der Tod ist allgegenwärtig, während die Natur um ihn herum wuchert und voller Leben ist. "Aber vielleicht sind Liebe und Leid immer klischeehaft, genauso wie Ehrgeiz, Eigensucht und Reue; selbst der Tod ist ein Klischee." Wallace Stegner versteht es meisterlich, diesem großen Thema in kleinen Geschichten zu begegnen, ohne den Roman damit zu überfrachten. Dieser strotzt gleichermaßen vor Leben, wie er sich um dessen Ende dreht und bringt beides in eine natürliche Symbiose. Einfühlsam setzt der Autor seine Figuren mit all ihrer Liebe, Ablehnung, Hilflosigkeit und Hoffnung ins Bild. Wobei die stärkste Figur von ihnen die körperlich schwächste ist: Marian.
Wallace Stegner, 1909 in ärmlichen Verhältnissen geboren, starb 1993 an den Folgen eines Verkehrsunfalles. Er arbeitete viele Jahre als Biograf, Kritiker, Essayist, Historiker und Literarturagent, unterrichtete an verschiedenen Universitäten und begründete 1946 in Stanford den Lehrstuhl für Creative Writing. So gehörte zum Beispiel Gordon Lish zu seinen Schülern, der Lektor und Förderer von Raymond Carver (siehe die Rezension über Raymond Carvers Band "Beginners"). Dass Joe Wallace Stegners Alter Ego ist, wird schon auf den ersten Seiten deutlich. Nicht nur, dass Joe auch Literaturagent war, sondern seine Affinität und Liebe zur Natur machen dies deutlich, denn auch Stegner machte sich Zeit seines Lebens um den Schutz der Umwelt verdient. So sind seine Landschaftsbeschreibungen eine literarische Gaumenfreude, so dass man an anderer Stelle dafür gern darüber hinweg sieht, dass er sich etwas verplaudert.
Nach "Die Nacht des Kiebitz" und "Zeit der Geborgenheit" hat dtv nun einen weiteren großartigen Roman von Wallace Stegner veröffentlicht, der genau die richtige Lektüre für kalte Winterabende ist, wenn man die Fragen an das Leben nicht scheut, die sich danach unweigerlich einstellen.
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