Kapital

  • Stuttgart: Klett-Cotta, 2012, Titel: 'Kapital', Seiten: 682, Übersetzt: Dorothee Merkel
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Wolfgang Franßen
931001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2012

WIR WOLLEN WAS IHR HABT

In eine Familie müssen wir nicht unbedingt hinein geboren werden. Wir können uns auch auf die Heimat berufen, unsere Wurzeln als Hannoveraner in Tokio, als Wuppertaler in Wien, als Stuttgarter in Berlin weiterhin pflegen. Es fängt schon in der Stadt selber an, wir sind entweder Kreuzberger, Prenzlauer oder Winterhuder oder wohnen in Altona. Wir wohnen im angesagten Viertel oder in der falschen Straße. Wobei je älter wir werden, die Entscheidung, wohin wir gehören wollen, oft genug vom Geld abhängt.

Und so lässt John Lanchester gleich zu Anfang seines Romans keinen Zweifel daran, indem er den Aufstieg der Pepys Road in London, die sündhaft in die Höhe schießenden Hauspreise angesichts einer überteuerten Immobilienblase nachzeichnet, dass sich in diesem Teil Londons zu der Zeit nur Gewinner niederlassen. Menschen, die dazu gehören oder via Erbschaft den Aufstieg von der Arbeiterstraße zum mondänen Sehnsuchtsort mitvollzogen haben, weil sie schon immer dort wohnten.

Ein Jahr lang vom Dezember 2007 bis zum November 2008 begleitet John Lanchester seine "Rich-Enders" durch ihre kleinen, mittleren oder größeren Katastrophen. Seien sie den monetären Größenwahn unterworfen oder der entspringen sie der politische Hysterie. 

Petunia Howe ist achtzig und lebt in der Nummer 42. Ihr Mann ist gestorben und wenn sie nicht gerade zum Arzt muss, regelt sie ihr Leben per Internet. Gegenüber in der 51 lebt Roger Yount Banker Bei Pinker Lloyd, der sein Leben auf so großem Fuß lebt, dass er dringend die Finanzspritze von 1 Million Pfund benötigt, um die größten Löcher in seinem Finanzhaushaltsplan zu stopfen. Verheiratet ist John mit Arabella, die gelesen hat, dass Frauen im Multitasking besser als Männer sind, und der in jeder Phase des Lebens eine Hilfe zur Hand geht. Eigentlich versteht sie sich nur auf eins: Geld ausgeben. Etwas wovon Ahmed Kamal in seinen Kiosk am Ende der Pepys Road in der Hausnummer 68 nur träumen kann. Er muss morgens um vier aufstehen, um seine Familie durchzubringen und steht noch ganz am Anfang eines britischen Traums, der schnelle Reichtum verspricht.

Die Pepys Road Nummer 27 steht eigentlich leer. Sie gehört einem Premiere League Club als Unterkunft für überbezahlte Talente, die dort kurzfristig geparkt und mit einem Luxushotelambiente beeindruckt werden sollen, damit der Club sich in aller Ruhe überlegen kann, ob er seine Option ziehen will.

Und wie bei jeder guten Familie Bekannte und Freunde dazu gehören, kreuzen auch die Pepys Road Menschen, die eigentlich nicht hier wohnen, aber dafür Sorge tragen, dass das Leben in den Häusern aufrecht erhalten werden kann. Menschen wie Bogdan, der eigentlich Zbigniew heißt, seines Zeichens Handwerker und Frauenheld, den vor allem eines auszeichnet, billiger, zuverlässiger und schneller als britische Kollegen zu sein.  Oder eine übereifrige nigerianische Politesse, die sich eine Mindestanzahl an Strafmandaten ausstellen muss und wegen einer internen Wette auf der Suche nach der teuersten verwarnten Luxuskarosse ist, die sie als Beleg dann auch gleich aufs Foto bannt.

John Lanchester, der für seinen Debütroman "The Debt of pleasure" gleich den renommierten Whitbread Book Award bekam, kehrt mit "Kapital" in die blühende Zeit des Wirtschaftsbooms in Großbritannien zurück. Mitten hinein in den Wahnsinn, dass nach obenhin keine Grenzen gesetzt sind. Ein Haus war vorgestern einhunderttausend, gestern fünfhunderttausend, heute eine Million wert und morgen wird mindestens das Doppelte dafür zu erzielen sein. Dass diese Blase geplatzt ist, unter den Folgen leidet der Finanzsektor nach zahllosen Rettungsaktionen heute noch und bei uns geben sich Städte wie München, Berlin und Hamburg gerade der deutschen Variante hin, dass Immobilien doch die beste Geldanlage sind.

Lanchester ist in Hamburg geboren, aufgewachsen im fernen Osten, hat als Lektor und Journalist, sich selbst als Restaurantkritiker bewährt. So bunt wie seine Vita ist der Strauß an unterschiedlichen Menschen, den er in der Pepys Road bündelt, um sie alle durch mysteriöse Postkarten und dem Spruch "WIR WOLLEN WAS IHR HABT" verunsichert. Was bahnt sie da im Schatten an? Auf der ersten Seite schleicht gleich ein Kapuzenmann mitsamt Videokamera durch die Straße, was nichts Gutes verheißt. Auch wenn Arabella Yount sogleich davon ausgeht, dass es sich hierbei um einen PR-Gag einer Immobilienfirma handelt und sie sich gleich ausrechnet, wie viel sie ihr wohl für das jetzige Haus bieten, damit sie sich noch ein weitaus größeres leisten kann.

"WIR WOLLEN WAS IHR HABT"? Ein später Ausläufer des Kommunismus? Unzufriedene Jugendliche? Ein durchgeknallter Nachbar, der sich wichtig tut? Oder nur die romantische Sehnsucht eines jeden, dass er es eines Tages besser haben wird. Lanchester kreist in kurzen Kapiteln, in denen immer nur einer der Anwohner oder einer der Außenstehenden beschrieben wird, die heraufziehende Katastrophe in der Pepys Road ein. Und obwohl eine Menge Namen womöglich abschrecken könnten, versteht es den Autor, die einzelnen Leben so schillernd zu beschreiben, dass wir als Leser gerne die Brücke zwischen den Kapiteln schlagen, um herauszufinden, wie das denn nun ist mit Petunia Howe und ihrem Enkel Smitty, der eigentlich Graham heißt und sich als Performance- und Installationskünstler einen Namen gemacht hat. Oder mit Shahid Kamal, der das Leben weitaus lockerer sieht als sein Bruder Ahmed, mal studiert, mal nicht studiert, sich mal interessiert und dann wieder alles auf sich beruhen lässt.

Lanchester sammelt Portraits einer Stadt, einer Zeit, und hat begriffen, dass Geschichte beschreiben, nicht aus der Aufzählung bloßer Fakten besteht. Wie Lehmann Brothers Pleite gegangen ist, wann der erste Rettungsschirm gespannt wurde, als Banker wie Roger Yount längst ihr eigene Bank nicht mehr verstanden und sich im globalen Blindflug befanden wird in "Kapital" so erzählt, als wäre es jederzeit wieder möglich. Was es ja auch ist.

Als die Dinge ins Rutschen kommen, die globale Krise den Bonus streicht, der Kioskbesitzer von der Ecke unter Terrorverdacht steht, selbst auf die Politesse keine Verlass mehr ist, weil sie ohne Arbeitserlaubnis Strafmandate verteilt und in die Nachbarschaft tiefstes Afrika einzieht, weil ein Premier Club Nachwuchs braucht, erfassen die privaten Dramen jeden Haushalt. Die Angst geht um.

Ein großer Gesellschaftsroman. Lanchester versteht sich darauf, Menschen zu Wort kommen zu lassen, ihre Geschichte als die gesamte Geschichte, ihrer Familien, ihrer Straßen, ihrer Stadt, ihres Landes kurz aufleuchten zu lassen.

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