Menschen brauchen Märchen über sich selbst
Sie nennen es "Detroit" dieses Unbekannte, das sich außerhalb ihres Wohngebietes befindet und das eine Bedrohung darstellt, vor dem sie ein Zaun schützen soll. Dieses Nest voller Keime, Krankheiten, ein Hort der Unberührbaren. Selbst leben sie in einer Art betreutes Wohnen der Zukunft. Eine Stiftung hat die Kontrolle über ihr Leben übernommen, verteilt Karten und Essen in Boxen. Für zusätzliche Vergünstigungen können Punkte gesammelt werden und so scheint das Glück beinah perfekt zu sein. Wäre da nicht die Angst, es entzogen zu bekommen, wenn man sich nicht an die Regeln hält.
Die 1956 in Drahme geborene Birgit Vanderbeke gewann mit ihrer Erzählung "Das Muschelessen" neben anderen Preisen 1990 den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihr "Siebter Distrikt" wirkt in der Reglementierung an das zukünftige Miteinander nach dem Zusammenbruch der globalen Wirtschaft. Die Schilderung, wie auf dem Land die Lebensmittelläden schließen, Kinos zu Markthallen umfunktioniert werden sollen, Ärzte keinen Nachfolger finden, sind so weit von der Realität nicht entfernt. Nicht in Südfrankreich, wo die Autorin lebt, auch nicht im Deutschland der Nachwende-Zeit. Es wird reguliert!
Doch die Autorin stattet die Geschichte nicht mit dem Skalpellblick eines Orwell, Bradbury und Huxley aus. Das Düstere eines solchen Lebens liest sich eher in den Zwischenzeilen. Die Menschen sind allesamt liebenswert. Egal ob Jule Tenbrock, die in einer Wäscherei arbeitet und bloß gegen keine Regeln verstoßen will. Egal ob der Nachbar Timon Abramowski, der gleich im Treppenhaus wittert, dass sich ein Hund im Haus befindet. Es sind Menschen, wie sie in unseren Großstädten allmählich die Mehrheit stellen. Singles, die ins Alter kommen, kleine Wohnungen bewohnen und nicht mehr groß aufbegehren, weil sie stets ihr privates Glück im Blick behalten.
Kein Wunder, dass die kleinste Störung des Ablaufs sich in diesem Umfeld gleich zur größtmöglichen Katastrophe auswächst. Im obersten Stockwerk stolpert Jule Tenbrock eines Tages beinah über ein Bündel, als das Licht im Treppenhaus ausgeht. Und während sie noch darüber nachdenkt, sich beim Hausdienst zu beschweren, findet sie Pola Nogueira vor ihrer Tür. Eine Schwangere, die vor dem Elend in "Detroit" geflüchtet und durch den Zaun zum "Siebten Distrikt" geschlüpft ist. Auf der Suche nach einem sicheren Geburtsort. Nicht nur sie. Auch einen Hund hat sie dabei.
Zwei Keimzellen, zwei Krankheitserreger, zwei Verstöße gegen die herrschenden Regeln. Obwohl Jule befürchten muss, ihre Arbeit in der Wäscherei zu verlieren, nimmt sie die Halbverhungerte mit in ihre Wohnung, wo sie ihr zwar nicht mal etwas zu essen anbieten kann, zumindest aber eine Bleibe für eine Nacht. Am nächsten Morgen muss Pola dann schauen, wie sie weiterkommt. Schließlich denkt auch der Nachbar:
"Bisher war kein Bär, kein Wolf, kein Wildschwein in irgendeinem Distrikt gesichtet worden, woraus er schloss, dass der Zaun durchaus einen Schutz gegen Tiere bot. Nicht aber gegen Menschen. Menschen mit einem Hund."
Es ist nicht hoffnungslos in dieser neuen Welt der Birgit Vanderbeke. Die Menschlichkeit hat trotz aller Vorsicht überlebt. Die eine Mieterin setzt die Schutzbefohlene vor die Tür, da steht schon der nächste Nachbar bereit, um sie bei sich aufzunehmen. Wenn sich da nicht mal was entwickelt, denkt man gleich.
Die Menschen in diesem Roman haben sich gefügt. Es gibt keine bleierne Unterdrückung. Das Altsein fängt im Roman nicht erst mit dem Eintritt der Gebrechlichkeit an. Es schleicht mittels Wochenendbeilagen und Gewinnspielen im Fernsehen als "Schöne neue Welt" umher. So wirkt das Nest, das Birgit Vanderbeke ihren Helden da baut, die Zuneigung, die sich entwickelt, etwas verwunschen anheimelnd.
Gutmenschengeschichten kranken oft daran, dass sie, nachdem das Buch zugeschlagen ist, zwar einen zufriedenen Seufzer ermöglichen, aber mehr auch nicht.
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