Es hätte mir genauso

  • München: Luchterhand, 2012, Titel: 'Es hätte mir genauso', Seiten: 320, Übersetzt: Silvia Morawetz
  • London: Hamish Hamilton, 2011, Titel: 'There but for the', Originalsprache
Es hätte mir genauso
Es hätte mir genauso
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Rosie Sabel
851001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2012

Der ungewollte Untermieter

Genevieve und Eric Lee halten sich für weltoffene, tolerante, im positiven Denken geübte Gastgeber von Dinnerpartys. Im letzten Jahr hatten sie ein muslimisches Pärchen zu Gast, im Jahr zuvor sogar einen echten Palästinenser. Dieses Jahr bringt der schwule Mark Miles Garth mit, eine Zufallsbekanntschaft aus dem Theater. Dieser strapaziert die Nerven der Lees auf Anhieb enorm, denn er ist nicht nur Vegetarier, sondern geht nach dem Hauptgang ohne weitere Ankündigung einfach nach oben und schließt sich in einem der Gästezimmer ein. Miles Garth wird zu einem UU, einem ungewollten Untermieter. Für Tage, Wochen, Monate.

"Etwa eine unkonventionelle Methode, sich das Rauchen abzugewöhnen?"

 Die 1962 in Inverness geborene frühere Literaturdozentin Ali Smith gehört zur literarischen Avantgarde Großbritanniens, zwei ihrer Erzählungen schafften es bereits auf die Shortlist für den Booker Prize. Völlig zu Recht wird sie vom Daily Telegraph als eine der aufregendsten Schriftstellerinnen unserer Zeit bezeichnet, denn mit ihrem vierten Roman "Es hätte mir genauso" hat sie ein kleines Meisterwerk geschaffen. Auf 316 prall gefüllten Seiten lässt Ali Smith uns teilhaben an einem vordergründig aberwitzigen Plot, der sich letztendlich als bissige Satire über die Brüchigkeit der Gesellschaft und ihr krampfhaftes Festhalten an traditierten Konventionen erweist. Selten wurde in einem Roman Konversation auf einer Party so sehr auf den Punkt beschrieben, die Gäste unterhalten sich scheinbar angeregt und fließend, und doch reden alle permanent und konsequent aneinander vorbei.

"Wasser genügt fürs Erste, aber brauche bald etwas zu essen. Vegetarisch, wie Sie wissen. Danke für Ihre Geduld." Miles schiebt einen Zettel mit dieser Botschaft unter der Tür des Gästezimmers hindurch. Schnell erlangt er eine gewisse Prominenz. Es dauert nicht lange, bis sich Fangemeinden bilden, erste Miles-Anhänger in den Hintergärten campieren, "Milo, Milo" skandieren und Milo-Merchandise vertreiben. Die unfreiwilligen Gastgeber setzen derweil alles daran, ihren ungebetenen Gast schnellstmöglich wieder loszuwerden, sie schieben dem Vegetarier ausschließlich tierische Nahrung unter der Tür des Gästezimmers hindurch und rekrutieren Menschen aus Milos Umfeld, die ihn zum Herauskommen überreden sollen.

Spätestens hier zeigt sich das erzählerische Ausnahmetalent von Ali Smith, denn wir lernen Miles nun aus verschiedenen Perspektiven kennen, nach und nach setzen sich einzelne Facetten zu einem Ganzen zusammen. Anna verbrachte als Jugendliche einige Tage auf einer Europareise mit ihm, Mark begegnete ihm zufällig bei einer Shakespeare-Aufführung, und aus einem traurigen Grund sieht die inzwischen demente May ihn einmal pro Jahr. Darüber hinaus gibt es die altkluge Nachbarstochter Brooke, die heimliche Hauptdarstellerin des Romans, die mit intelligenten Kommentaren und Aktionen für den Fortgang der Geschichte sorgt.

Voller Charme und mit geradezu epischer Wucht entwirft Ali Smith ein Abbild der heutigen Gesellschaft. Einer Optionsgesellschaft, in der sich immer größere materielle, soziale und intellektuelle Abstände auftun. Einer Gesellschaft, in der Ethikberater ein ganz normaler Job ist und Flüchtlingsschicksale auf normierte Formulare heruntergebrochen werden. (Gefoltert ja/nein.) So spielt der Roman sicherlich nicht zufällig in Greenwich, wo man sich theoretisch täglich aufs Neue bei der Überschreitung des Nullmeridians entscheiden kann, in welche Richtung man gehen möchte. Auch der ungewöhnliche Buchtitel "Es hätte mir genauso" verweist auf die Wahlmöglichkeiten und Zufälligkeiten des Lebens. 

Mit köstlich britischem Humor in der Tradition eines Nick Hornby oder Tom Sharpe erzählt Ali Smith eine originelle, bis zum Schluss äußerst unterhaltsame Geschichte, die ihresgleichen sucht. Leider bleibt zu befürchten, dass bei der Übersetzung ins Deutsche einige der herrlichen Wortspiele und Assoziationen auf der Strecke geblieben sind. Ihr philosophisches Kurzessay zu der Frage, was passiert, wenn man aufhört zu sprechen, ist geradezu preisverdächtig. "Würden die Wörter nach und nach ihren Sinn verlieren? Würden sie wuchern wie Pflanzen, die nicht gehegt werden? Würde einem der Kopf zuwachsen von den vielen Wörtern, die bereits Eingang in ihn gefunden haben ?"

 "Es hätte mir genauso" ist einer der unterhaltsamsten und gleichzeitig intelligentesten Romane, die ich seit Jahren gelesen habe.

Es hätte mir genauso

Ali Smith, Luchterhand

Es hätte mir genauso

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