Tragikomische Tour de Force
Billy Abbotts erste große Liebe ist Miss Frost, die attraktive Bibliothekarin mit den riesigen Händen und den jugendlich kleinen Brüsten. Sie nennt sich Alberta, doch scheinen in der Kleinstadt First Sisters in Vermont alle außer Billy zu wissen, dass Alberta früher Albert hieß und Kapitän der Ringermannschaft war. Wenn das mal keine Ouvertüre ist für ein ganz besonderes Leben. Denn "was wir begehren, prägt uns". Miss Frost lehrt Billy, dass es viele unterschiedliche Spielarten der Geschlechter gibt und man sich hüten soll, Menschen in Schubladen zu stecken. Und dass man unbedingt lernen muss, sich zu verteidigen, denn "überall gibt es homohassende Arschlöcher".
In seinem 13. Roman schickt John Irving, einer der letzten großen Geschichtenerzähler unserer Zeit, wieder einmal einen Jungen auf die lange, schmerzhafte Suche nach seiner sexuellen Identität. "In einer Person" ist auf 722 Seiten üppig ausgestattet mit den üblichen Irvingschen Romanbeigaben, es gibt den vaterlosen Jungen, dominante Frauen, schüchterne Männer, Inzest, viele, viele Ringer und natürlich das frühe Verlieren der Unschuld.
Billy hat "das Schwulsein gleich von beiden Seiten abgekriegt". Vom Vater, der von der Mutter erwischt wurde, wie er "eine andere Person" küsste. Ganz bewusst bleibt das Geschlecht der anderen Person unerwähnt, und prompt entzieht die Mutter ihrem Sohn ihre Liebe, als sie dessen homoerotische Neigungen erkennt. Auf der anderen Seite gibt es Billys Grandpa Harry, der alle wichtigen Frauenrollen im Laientheater mit sich selbst besetzt und aus dem Altersheim fliegt, weil er gerne die Kleidung seiner verstorbenen Frau trägt. Wobei Billy nicht nur die transsexuelle Miss Frost begehrt, sondern auch die Frau seines Lehrers und ebenso den attraktiven Ringer Kittredge. Kurzum, Billy ist bisexuell, und Bisexuelle gelten als promiskuitiver als alle anderen, weil man schließlich nie weiß, zu wem sie sich als nächstes hingezogen fühlen.
Herrlich skurril, bisweilen bizarr beschreibt Irving in seinem unnachahmlichen Stil und mit überbordender Erzählfreude das sexuelle Erwachen seines jugendlichen Helden. Es beginnt im prüden Amerika der 50er Jahre, wo man noch davon ausging, dass "unangebrachtes erotisches Hingezogensein zu Jungen und Männern" heilbar ist. Was für eine tragikomische Tour de force! Wir begleiten Billy bis ins Hier und Jetzt und stellen angesichts der rückständigen, erzkonservativen Haltung eines Mitt Romney fest, dass sich beim Thema Toleranz in weiten Teilen Amerikas auch im 21. Jahrhundert nicht viel bewegt hat.
Der inzwischen 70jährige Autor hat einmal in einem Interview gesagt, "Schreiben ist wie Ringen. Man muss auf eine Geschichte zugehen wie auf einen Gegner." Irving, der seine Romane noch immer mit der Hand schreibt und sich für den aktuellen Roman nur zwei Jahre Zeit gelassen hat, hat -offensichtlich inspiriert durch das zeitgleiche Coming out seines jüngsten Sohnes- sehr mit sich gerungen. Und mutet auch den Lesern einiges zu. Es gibt viele verschiedene Erzählstränge, große Zeitsprünge und jede Menge Romanpersonal neben den Hauptdarstellern. Die gesamte Story ist förmlich gespickt mit Assoziationen zu Literatur und Theater, so entstammt auch der perfekt gewählte Buchtitel aus Shakespeares Richard II: "So spiele ich in einer Person viele Menschen, und keiner ist zufrieden."
Irving will ein bisschen des Guten zuviel. Fulminant gestartet und anfangs auf dem hohen erzählerischen Niveau seines ersten Bestsellers "Garp und wie er die Welt sah" weist der Roman im Laufe des Lesens einige Längen auf, hier und da verirrt sich die Handlung, dadurch büßt die Geschichte manches von ihrem anfänglichen Sog ein. Auch legt Irving eine Detailfreude an den Tag, die nicht immer angebracht erscheint. Zugegeben, er ist ein besessener Rechercheur, dennoch könnte er den Lesern z.B. die umfänglichen und manisch detailliert geschilderten Beschreibungen von Aids-Symptomen schlichtweg ersparen. Die eigentliche Romanhandlung tritt im letzten Drittel des Buches fast komplett in den Hintergrund zugunsten der wichtigen und leider auch oftmals unwichtigen Nebendarsteller. Dies in Verbindung mit dem häufig und nicht ganz zu Unrecht geäußerten Vorwurf der ständigen Wiederholung seiner Lieblingsthemen in seinen Werken lässt Irvings neues Buch letztendlich ein wenig an Glanz verlieren.
Und doch ist "In einer Person" ein großartiges Plädoyer für Toleranz gegenüber dem Anderssein, für die Freiheit, so sein zu können, wie man ist.
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