Nach dem Kokain des Grauens
Nur, wer selbst gekokst hat, kann Szenen beschreiben wie M. Agejew, alias Mark Levi. Oder aber, er hat eine blendende Fantasie. Der Autor ist ein Phänomen. Lange wurde vermutet, Vladimir Nabokov verberge sich hinter dem Pseudonym M. Agejew. Doch Nabokovs Witwe hat dementiert, dass ihr Mann jemals einen Roman mit diesem Titel geschrieben habe (was wiederum verdächtig scheint). Mark Levi, oder M. Agejew hat nicht nur mit seinem Buch für Furore gesorgt, sondern auch damit, ein anderer zu sein – und nicht Nabokov.
Viel ist nicht bekannt über den Autor, dessen Roman bereits in Teilen im Jahr 1934 erschien. In einer Emigrantenzeitschrift, die den Namen Čísla trug. Darin stolpert ein junger Mann durchs vorrevolutionäre Russland, ohne scheinbar zu merken, sich und seine Mitmenschen zu vernichten. Da ist zunächst das alte Mütterchen des jungen Gymnasiasten Wadim Maslennikow, dessen er sich schämt. Mehr noch, er übt seelische Gewalt an der nicht wirklich alten Frau aus, die sich mühsam das Geld für seine Schule von den Lippen abspart. Dann ist da das junge Mädchen, welches Wadim wissentlich mit einer Geschlechtskrankheit infiziert, weil ihm gerade danach ist, nach Sex. Und Sonja, die er wirklich liebt. In ihr fließen "Geistiges und Sinnliches" in eins zusammen. Auch Wadims Beziehung zu der verheirateten Sonja ist ohne Zukunft.
So grausam die Kapitel auch scheinen, Agejew gibt sie mit einer unglaublichen Eleganz wieder. Ob er dem alten Schulpopen seine Meinung zukommen lässt, Lehrern, Freunden, Frauen: Stil bleibt Stil, selbst, wenn der Inhalt erschlägt. Agejew haut Sätze wie Fausthiebe raus. Sätze, die wie Weisheiten eines Allwissenden klingen: "Für einen verliebten Mann sind alle Frauen einfach nur Frauen, mit Ausnahme der einen, in die er verliebt ist – sie ist für ihn ein Mensch." Sätze, die es sich zu merken lohnt.
Der junge Wadim geht seinen Weg. Anwalt will er werden, klug genug ist er. Reich will er werden, dumm genug ist er, um schon vorher seine Karten zu verspielen. Über Leichen geht er, weil ihn nichts interessiert, außer seiner selbst. Ein junger Dandy ist er, ein Dorian Gray, mit schmutziger Unterwäsche aber gepflegtem Obendrüber. Einer, der sein Umfeld täuscht, um sich selbst noch im Spiegel ansehen zu können. Einer, der mit Anfang 20 stirbt, weil alles zu viel wird – besonders das Kokain.
Mit der Darstellung seiner liebevoll gestalteten Figuren, läuft auch der Autor, der in der Türkei gestorben sein soll, zur Höchstform auf. Er kritisiert das Regime Russlands, fällt der restlichen Welt in den Rücken, philosophiert über das Judentum, zerlegt den Glauben, nur, um letztendlich zu der für ihn einzig wahren Droge zu finden: Dem Kokain. Und eben in der Beschreibung dieser Szenen übertrifft Agejew sich selbst. Wie bei Boris Vian verschieben sich Zimmerwände, werden Äußerlichkeiten nach innen gestülpt. Agejew schreibt auf, wie sich Welten im Kopf zu drehen beginnen. Und zwar so, dass sich wirklich alles zu drehen scheint. Er macht das gut, unverwechselbar. Scheinbar: Wäre da nicht Nabokov, der das auch konnte. Vielleicht liegt darin die russische Seele. Eben die Seele eines mit Sprachbildern glänzenden Autors, der sich des sittlichen Verfalls, der Verrohung seines Landes, der Verderbtheit einzelner Personen angenommen hat. Agejew hinterfragt – trotz seiner dargelegten Gewalt – wie es sich mit Schuld leben lässt. Mit Sühne. Der Autor befindet sich somit in guter Gesellschaft, wird er verglichen mit Dostojewski, Gogol, Tolstoi und Ivan Goncharov, dessen Protagonist Oblomov sogar namentlich Einzug erhält im "Roman mit Kokain".
Dieser Roman ist ein Kunstgriff. Große Literatur und nicht nur, weil der Autor unbekannt scheint, wie ein B. Traven oder eine Handvoll weiterer undurchsichtiger Personen. Die Geschichte ist großartig, voller Geist, Witz und Zynismus, worauf der Roman letztendlich baut. Der kluge, wissbegierige Held geht unter. Alle anderen leben weiter. Nicht besser als Wadim. Aber sie leben.
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