Im Krebsgang

  • München: Der Hörverlag, 2002, Seiten: 9, Übersetzt: Günter Grass, Bemerkung: mit einem Begleittext von Helmut Frielinghaus
  • München: dtv, 2004, Seiten: 215, Originalsprache
Im Krebsgang
Im Krebsgang
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Peter Kümmel
861001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2011

Wir sind nicht weit entfernt

Grass wäre nicht Grass, wenn er berechenbar wäre. Tierisch ist er ja schon oft gewesen. Nach Hund, Katze, Maus, Schnecke, Butt und Ratte ist es diesmal ein Krebs, den er sich ausgeguckt hat und der das Cover seines Buches zieren darf. Nein, mit dem Inhalt seines Buches hat der Krebs überhaupt nichts zu tun. Es geht um den Gang des Krebses. Nun, so ein Krebs bewegt sich hauptsächlich seitwärts, dann mal ein Stückchen vor und mal wieder zurück. Und genauso, wie sich der Krebs bewegt, so bewegt sich auch der Autor in seinem Werk. Aus der Gegenwart in die Anfänge des vergangenen Jahrhunderts, von Danzig in die Schweiz, in den zweiten Weltkrieg gesprungen, zurück in die Vorkriegszeit mit einem Abstecher in die Gegenwart, immer hin und her in Ort und Zeit.

Das Ganze hört sich viel schlimmer und verwirrender an, als es jedoch ist. Zugegeben, man braucht schon einige Seiten, um sich einzulesen, doch wenn man diesen Einstieg erst mal geschafft hat, liest man so gebannt, dass man das Hin- und Hergehüpfe schon verinnerlicht hat und so kein Problem damit hat, wo sich der Autor gerade befindet. Zum Nebenherlesen freilich eignet sich die Novelle dagegen nicht. Dazu ist das Thema auch nicht gedacht.

216 Seiten, das ist für Grass nicht gerade ein dickes Buch. Wahrscheinlich wird es deswegen unter der Bezeichnung Novelle geführt; für mich geht es als Roman durch. Zudem ist es ein Buch, über das man selber Romane schreiben könnte. So bleibt es für mich das größte Problem, diesen Bericht einigermaßen kompakt zu halten.

Eine der größten Katastrophen der Schifffahrt

Wilhelm Gustloff, David Frankfurter, Alexander Marinesko - Namen, die Grass dem Leser wie einem Hund das Fressen vorwirft, als seien es die drei zentralen Gestalten des ganzen Buches. Abgesehen davon, dass einer der drei einen anderen davon umgebracht hat, haben sie sich jedoch nie gesehen. Zwar spielt jeder davon eine wichtige Rolle, doch die wirklichen Hauptpersonen des Buches sind andere.

Doch bevor ich jetzt auch in den Krebsgang verfalle, denke ich, dass es sich für eine Rezension besser eignet, das Geschehen ein wenig zu ordnen. Und deshalb beginne ich mal mit den Hauptfiguren, um später zu obigen Namen zurückzukehren.

Der Erzähler des in der Ich-Form geschriebenen Buches ist Paul Pokriefke. Paul ist Journalist, erst bei Springer tätig, dann bei der taz. Keiner dieser besonders engagierten Journalisten. Er ist ein Opportunist. Er passt sich an und versucht sich ohne Mühen durchs Leben zu schlagen. Und doch zählt er als Romanfigur zur Gruppe Versager. Seine Ehe, aus der sein Sohn Konrad hervorging, ging in die Brüche. Pauls Mutter lasse ich den Autor mal in einem seiner typischen weitschweifigen Sätze selber einführen:

"Nicht aus Danzig stammt sie, sondern aus diesem langgestreckten, immer wieder ins Feld hinein erweiterten Vorort, dessen eine Straße Elsenstraße hieß und dem Kind Ursula, Tulla gerufen, Welt genug gewesen sein muß, denn wenn sie, wie es bei Mutter heißt, 'von janz frieher' erzählt, geht es zwar oft um Badevergnügen am nahen Ostseestrand oder um Schlittenfahrten in den Wäldern südlich des Vorortes, doch meistens zwingt sie ihre Zuhörer auf den Hof des Mietshauses Elsenstraße 19 und von dort aus, am angeketteten Schäferhund Harras vorbei, in eine Tischlerei, deren Arbeitsgeräusch von einer Kreis-, einer Bandsäge, der Fräse, der Hobelmaschine und dem wummernden Gleichrichter bestimmt wurde."

Einen Vater hat Paul nie gehabt. Es ist nicht mal sicher, welcher von Tullas Liebschaften denn nun überhaupt der Vater war. Aber um nun zu Pauls Geburt zu kommen, muss ich auch zwangsläufig in den Krebsgang verfallen. Denn diese ist unmittelbar mit der Geschichte des Schiffes "Wilhelm Gustloff" verbunden. Und hier vermischt sich die Erzählung mit der Historie.

Ursprünglich als KdF-Schiff erbaut - um dem Volk günstige Urlaubsreisen, vorwiegend nach Norwegen, anzubieten, auf das dieses anschließend gestärkt an die Arbeit gehen kann - wurde es nach Kriegsbeginn zunächst als Lazarettschiff eingesetzt und später mehr und mehr zum Kriegsschiff umfunktioniert. Bei seiner letzten Fahrt am 30. Januar 1945 war die "Wilhelm Gustloff" mit 6000 bis 11000 Personen besetzt, genauer lässt sich das nicht sagen. Denn außer Soldaten waren auch sehr viele Flüchtlinge, darunter Tausende von Kindern an Bord. Als das Schiff nach der Torpedierung durch ein russisches U-Boot, unter dem Kommando von Alexander Marinesko, sehr schnell sank, konnten nur etwa 1000 Menschen gerettet werden.

Eine dieser Personen war die 17-jährige hochschwangere Tulla Pokriefke, die in jener Nacht in einem Begleitboot ihren Sohn Paul zur Welt brachte, und dessen Schreie vermischten sich mit den Todesschreien der Ertrinkenden.

Nach Ende des Krieges wollte dann über solche Ereignisse keiner mehr etwas hören. Doch Tulla kann das Geschehene nicht vergessen und setzt große Hoffnung darauf, dass ihr Sohn Paul in seiner Eigenschaft als Reporter die Welt an diese Katastrophe erinnert.

Aber über diese Geschichte möchte er auf keinen Fall schreiben. Zu viel Angst hat er vor der Verherrlichung der Nazi-Zeit, die er damit aus rechtsradikalen Kreisen heraufbeschwören würde. Darin bestärkt ihn noch das, was er bei halbherzigen Recherchen im Internet entdeckt. Auf der rechtsradikalen Homepage www.blutzeuge.de wird die Geschichte des Schiffes und ihres Namensgebers in allen Einzelheiten ausgeschlachtet.

Je mehr er sich mit dieser Website beschäftigt, desto mehr Einzelheiten kommen ihm suspekt vor. Und schließlich ist er sich sicher: der Betreiber der Homepage ist kein anderer als sein eigener Sohn Konrad, von der Großmutter nach der Wende enger an sich gebunden, doch wohl in einer Weise von ihr beeinflusst, die sie nicht beabsichtigt hatte.

Doch nicht nur mit dem Schiff "Wilhelm Gustloff" beschäftigt sich Konrad auf seiner Website, sondern auch mit dessen Namensgeber, der Person Wilhelm Gustloff, geboren am 30. Januar 1895, auf den Tag genau 50 Jahre vor dem Untergang des Schiffes. Und nicht nur diese Ereignisse sind mit dem Datum 30. Januar verbunden, sondern auch Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933. Alles historisch verbürgte Daten. Hätte sich der Autor das so ausgedacht, hätte man es als "zuviele Zufälle" kritisiert. Dieser Gustloff war als Landesgruppenleiter in der Schweiz eigentlich niemand, der sich in der nationalsozialistischen Partei irgendwie besonders hervorgetan hätte. Seine Bekanntheit und Verehrung erhielt er erst dadurch, dass er einem Attentat zum Opfer fiel. Ermordet von dem Juden David Frankfurter.

"Bei Sonnenschein rauchend auf harschem Schnee. Jeder Schritt knirschte. Am Montag fand die Stadtbesichtigung statt. Wiederholt die Kurpromenade auf und ab. Als Zuschauer zwischen Zuschauern unauffällig bei einem Eishockeyspiel. Zwanglose Gespräche mit Kurgästen. Weiß stand der Atem vorm Mund. Keinen Verdacht erregen. Kein Wort zuviel. Keine Eile. Alles war vorbereitet."

So die Beschreibung von Günter Grass, wie sich Frankfurter auf die Tat vorbereitet. Eine Leseprobe, die im absoluten Kontrast zu den Schachtelsätzen steht, die der Autor auch gerne schreibt.

Damit habe ich jetzt auch mit der Inhaltsangabe das ganze Spektrum des Romans erfasst.

Eine eindeutige Warnung.

Die Darstellung der Charaktere ist dem Autor sehr gut gelungen. Rein positive Figuren gibt es in diesem Buch nicht. Obwohl in der Ich-Form verfasst, kann sich der Leser nicht wirklich mit dem Erzähler identifizieren. Doch auch keine der anderen Personen ist dazu geeignet, sich auf dessen Seite zu schlagen. Aus diesem Grund behält der Leser auch den gebührenden Abstand zum Geschehen, um eine gewisse Objektivität zu bewahren, sofern dies vorgefassten Meinungen gegenüber noch möglich ist.

Grass versteht es hervorragend, den Bezug des aktuell existierenden Rechtsradikalismus zu diesen Ereignissen der Vergangenheit zu setzen. In den Mittelpunkt seiner Erzählung setzt er dabei das Schiff, das er sehr detailliert beschreibt. Leider gehen die Ereignisse der Massenflucht aus dem Osten durch die Kompaktheit des Buches etwas unter. Hier hätte es durchaus etwas mehr sein dürfen.

Wie Grass einerseits die Nationalsozialisten beziehungsweise die Rechtsradikalen und auf der anderen Seite die Juden, aber auch den Feind aus Russland darstellt, lässt vielerlei Interpretationsmöglichkeiten zu. Ich will da gar nicht zu viel hineindeuten, wer vielleicht besser oder schlechter weggekommen ist. Ich finde, der Autor erzählt recht distanziert und geht dabei sowohl auf die Probleme der einen wie auch der anderen Seite gut ein. Er kritisiert, jedoch nicht ohne Verständnis für das jeweilige Handeln.

Ich sehe "Im Krebsgang" als eine eindeutige Warnung, wie nahe wir in unserer Gegenwart den Ereignissen der Zeit des Nationalsozialismus sind und sehe das Buch als Meilenstein der Literatur unserer Gegenwart, der aufgrund seines Schreibstils nicht nur einem kleinen Kreis vorbehalten bleibt, sondern das Zeug zum Klassiker hat, über den es sich lohnt, zu reden.

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