Der Engel Esmeralda
- Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: Januar 2012
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- : Kiepenheuer & Witsch, 2012, Titel: 'Der Engel Esmeralda', Seiten: 246, Übersetzt: Frank Heibert
Zeitgeist anxiety
Don DeLillo, mehrfach preisgekrönt, ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Postmodernisten, sein Buch "Cosmopolis" wurde gerade mit Robert Pattinson und Juliette Binoche in den Hauptrollen verfilmt. Nach mehr als vierzig Jahren künstlerischen Schaffens hat er mit "Der Engel Esmeralda" nun seinen ersten Erzählband mit neun Kurzgeschichten veröffentlicht, die zwischen 1979 und 2011 entstanden.
Die Geschichten sind angesiedelt in der tiefsten Bronx, in einem permanent von Erdbeben erschütterten Griechenland oder einer Raumstation in der Erdumlaufbahn. So unterschiedlich die Schauplätze auch sein mögen, haben die Handelnden dennoch vieles gemein, sie sind meist unsichtbar für die Gesellschaft, sie sind Einzelgänger, sprach- und machtlos. Menschliche Vergänglichkeit in einer modernen Wegwerfgesellschaft.
"Sie ist ein karges Wesen, das nach einem Daseinsort sucht."
DeLillo, 1936 als ältester Sohn italienischer Einwanderer in der Bronx geboren und aufgewachsen, sagte in einem Interview, er sei zum Schriftsteller geworden "weil ich in New York lebte und all die großartigen, überraschenden, gefährlichen Dinge sah und hörte und fühlte, die hier geschehen". Und sie geschehen. Die tiefschürfendste Geschichte ist zugleich die namensgebende für den Erzählband. Sie handelt von New Yorker Nonnen, denen es nicht gelingt, eine verwahrloste Zwölfjährige zu retten. Schonungslos müssen wir mitansehen, wie Dinge einfach geschehen und nicht aufzuhalten sind.
Viele von DeLillos Protagonisten sind isoliert, einsam, Gefangene ihrer Existenz, Spielbälle des Schicksals. Da gibt es die Lehrerin in Griechenland, die wegen der dauernden Erdbeben nicht mehr schläft und dennoch keinen Antrieb hat wegzugehen. Da gibt es den Cineasten, der noch immer mit seiner Exfrau zusammenlebt, weil er sich nicht erinnern kann, warum sie sich haben scheiden lassen. Hat ein Paar eine Nacht zusammen verbracht oder eine Nacht zusammen verbraucht?
Die Gemeinsamkeit aller Geschichten des Erzählbands ist das fast schmerzhafte Fehlen von echten Ereignissen. Im Kosmos der jeweiligen Hauptdarsteller passiert nicht wirklich viel; sie sind Nebendarsteller in ihrem eigenen Leben, völlig überfordert und erstarrt. Menschen, die sich mit dem Leben anderer befassen, statt mit dem eigenen. Zwei Collegestudenten, deren Zeitvertreib es ist herauszufinden, ob ein Mann, den sie zufällig sehen, einen Anorak oder einen Parka trägt. Der lethargische Kinobesucher, der einer Kinobesucherin hinterherspioniert und ihr ein Familienleben samt skandinavischem Akzent andichtet.
DeLillos Geschichten haben ein offenes Ende. Dies - verbunden mit seiner typischen nicht-linearen Erzählweise - führt zu großen Interpretationsspielräumen für den Leser. Man könnte auch sagen, dies führt zu fehlender Nachvollziehbarkeit. Man erfährt oft weder die Gründe für das jeweilige Verhalten noch die Auflösung des Ganzen. In "Die Hungerleiderin" sagt Antiheld Leo: "Es gibt eine Art Ereignislosigkeit, die der Meditation ähnelt." Sollte aber eine Kurzgeschichte, eine Prosaform, deren besonderes Merkmal nun einmal die Kürze ist, denn nicht gerade deshalb mit Intensität und Essenz aufwarten? Niemand verlangt am Ende eine Pointe à la Edgar Allan Poe oder Roald Dahl. Doch offener Schluss, Minimalhandlungen sowie Hauptpersonen, die man über ca. 50 Seiten begleitet und praktisch sofort wieder vergessen hat, sobald man die nächste Geschichte in Angriff nimmt, das sind nicht unbedingt Zutaten für ungetrübten literarischen Hochgenuss.
Wobei die jüngeren Geschichten im dritten Kapitel dank ihrer aktuelleren und bedeutenderen Themen Weltwirtschaftskrise und Terrorismus die Geschichten sind, die eher im Gedächtnis haften bleiben. Besonders in "Hammer und Sichel" gelingt es DeLillo, die Zeitgeist anxiety zu transportieren, für die er stets gerühmt wird.
"Der Verkehr war stetig, in beiden Richtungen, Pick-ups, Kombis, Vans, alle waren befrachtet mit der Frage Wer und Wohin. Das ist die Zivilisation, dachte ich, der Schub des sozialen und materiellen Fortschritts, Menschen in Bewegung, die die Grenzen von Zeit und Raum testeten."
Wie in seinen Romanen wuchert DeLillo immerhin auch in seinen short stories mit Intellekt, Wortgewalt und vielen wunderbaren, bildhaften Wortkreationen wie weltuntergangsschlimm, comicstriphaft, pathosgetränkt. Die Taube quicksteppte, die Frau war raffiniert attraktiv. Das sind die Bilder, die im Kopf hängen bleiben. Die Geschichten und ihre Helden leider nicht.
Don DeLillo, Kiepenheuer & Witsch
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