En Passant
Wer kennt das nicht? Wir brauchen etwas Abstand zu uns, zur Familie, zu Beruf oder Freunden und gehen erst mal eine Stunde spazieren. An die frische Luft. Dann legen wir Kilometer um Kilometer im Wald, zwischen Feldern zurück oder streunen an den Geschäften vorbei. Der moderne Mensch verabschiedet sich zum Sport. Laufen, Rad fahren, zu Fitness oder Yoga. Hauptsache wir sind einen Moment lang mit uns allein, um den Kopf frei zu bekommen. In der deutschen Literatur hat diesen Flaneuren der eigenen Psyche Wilhelm Genazino ein Denkmal gesetzt. Wenn sie losziehen und dem Alltag entfliehen, geben sie alles über sich Preis.
Für Julius, den Psychiater aus New York, der sich so freizuschaufeln sucht, sind Spaziergänge zur Manie geworden, in denen er sich regelmäßig zu verlieren droht. Auch um den Stunden in der Klinik zu entkommen. Hinter allem steht die Frage: Kann man sein Leben so einfach transportieren? Von einer Kindheit in Nigeria in ein Leben in New York? Zumal, wenn die Entscheidung dafür nicht von einem selbst getroffen wird. Wir kennen das: Wir beobachten, wir hören zu, wir sind überrascht und bewegen uns wie auf leisen Sohlen durch fremde Leben, bei denen wir nicht selten froh sind, dass wir deren Leben nicht führen müssen. Das beruhigt. Das lässt einen die anstehende Woche durchhalten. Manchmal auch nur eine eigene Schuld, einen Fehler ertragen. Mit Julius bewahrt ein Psychiater sich einen Blick auf eine Gesellschaft, die mit sich so beschäftigt ist, dass er in sie einzutauchen vermag. Er wird fast unsichtbar.
Teju Cole ist Fotograf. Er ist es gewohnt, genau hinzusehen. Seine Beschreibungen der Stadt New York sind voller Details. Seine Geschichten der Bewohner entstammen den Fakten der Stadtchronik wie erfundenen Erinnerungen. Und wie wir uns auf unseren Spaziergängen nicht selten dabei erwischen, dass wir mit uns selbst reden, flaniert Julius, wenn auch sprachlich abgespeckt, wie Joyce durch sein Dublin. Stationen machend. Block um Block. So weisen ihn die Veränderungen am World Trade Center darauf hin, dass auf der Stelle, an der die Türme einst standen, früher sich Straßen kreuzten, deren Geschichten mit dem Bau der Türme verschluckt wurden.
Julius lässt seinen Gedanken freien Lauf, um sich von den eigenen zu befreien. Um sich zu versichern, dass er irgendwo dazu gehört. Die Liebe ist gescheitert, was die Einsamkeit inmitten einer pulsierenden Metropole umso spürbarer macht. Wohin mit sich? Ihn treibt nicht Depression an, er überlässt sich der abschweifenden Neugier.
Multikulturell, das beliebte Schlagwort, das vor allem der Entwurzelung eine neue Heimat bieten soll, zerbröselt bei genauerer Betrachtung in viele kleine Inseln, in Mikrokosmen. Von Nigeria über Haiti bis in den Libanon. Überall in den Metropolen gibt es Chinaviertel, ein paar Straßen lang Araber und in New York vor allem Italiener, Iren und Mexikaner. Viele Städte feiern die Vielfalt in Straßenumzügen oder inoffiziellen Feiertagen. Die innere Leere des erlittenen Verlustes ist damit kaum zu übertünchen. Da mögen sie alle noch so sehr die Hand aufs Herz legen und die amerikanische Nationalhymne schmettern.
Teju Cole beschreibt absurde Momente familiärer Tragik. So darf der dreizehnjährige Sohn von Anhängern der Pfingstbewegung, dem eine Leukämiebehandlung mit möglicher Zeugungsunfähigkeit droht, seinen Samen keiner Bank spenden. So könnte er später immerhin noch Kinder bekommen. Seine Eltern gestatten es dem Sohn nicht, den sündigen Pfad der Onanie zu betreten. Cole weiß, dass es nicht nur eine Frage ist, aus welchem Land stamme ich, auch aus welcher Familie wurde ich entwurzelt?
Der Autor kam vor zwanzig Jahren aus Lagos nach New York. Wie sein Held Julius im Roman versichert er sich einer Welt, in der er den Spagat zwischen seinen Yoruba-Wurzeln und dem Dasein des flanierenden Stadtneurotikers wagt. Cole ist im wahren Leben nicht nur Fotograf auch Chronist mittels Twitter in "Small Fates." Er legt Zeugnis von seinen Tagen ab. Wie Julius in "Open City".
Egal, ob die Erinnerung an einen ehemaligen Sklavenfriedhof, die Realität eines Abschiebegefängnisses, das Erstarken des Vlaams Belang in Belgien oder der verbohrte Israel-Hass zweier Marokkaner. Egal, ob literarische Querverweise zu Tahar Ben Jelloun oder Walter Benjamin. Alles unterwirft Julius dem Versuch, sich selbst zu vermessen und Antworten auf jene Frage zu finden, inwieweit er sich selbst schuldig gemacht hat.
Ein kluger, mit der Wendung am Schluss überraschender Roman, der nicht nur die Frage an der Mitschuld bei den anderen sucht, sondern keine Entschuldigung für sich zulässt.
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