It was a Friday in April 1986. The day that the nightmare began.
Ein alter Mann wird von seiner Begleiterin in einem Schnellrestaurant "vergessen". Der Ich-Erzähler und spanische Delegierte der "Generalkonferenz für Maß und Gewicht" kümmert sich um den scheinbar Hilflosen. Und findet sich plötzlich in Verantwortung für den Vergessenen wieder. "Dos Kilos", der einzige Name, den der Erzähler im Verlauf von Javier Sebastiáns "Der Radfahrer von Tschernobyl" erhält, kümmert sich um den Zurückgelassenen. Erst zögerlich, dann immer faszinierter von der Geschichte des Mannes, bei dem es sich um Wassili Nesterenko handelt, den titelgebenden Radfahrer, die Hauptfigur des Buchs.
Dos Kilos ist zuständig für das "amtliche Kilogramm" Spaniens, jenen Zylinder, der genau ausgewogen ("homologiert") wird und das genaue Gewichtsmaß festsetzt. D.h. Dos Kilos besitzt als einziger Delegierter zwei Zylinder. Die Philippinen sollten 1896 ein Gardekilo zugeschickt bekommen, genau in jenem Moment, als sie aufhörten, eine spanische Kolonie zu sein. So blieb der Zylinder im Besitz der spanischen Behörden, und der Landesvertreter ist "der Exakte. Der Mann der niemals lügt."
Jener, relativ kurz abgehandelte, in Frankreich spielende Erzählabschnitt zeigt die Sehnsucht nach einer Welt, die sich genau berechnen lässt, deren Bestimmungen und Messwerte global gültig sind. Etwas, worauf sich Wirtschaft, Wissenschaft, alle Menschen verlassen können, das Sicherheit verheißt. Kleine Geplänkel um Posten, um Verantwortlichkeiten mag es geben, aber das Procedere steht, alles kann zertifiziert werden, weil der Zylinder als Grundlage der Berechnungen genau das ist, was er zu sein hat. Ein stabiles Maß. Und ein kompletter Trugschluss.
In Wassili Nesterenkos Leben spielen Zylinder auch eine große Rolle. Doch sind seine Zylinder Maßstab für die größtmögliche Instabilität, das Versagen offizieller Messungen, den Super-Gau. Angesichts der Tschernobyl-Katastrophe verändert sich das Leben des angesehenen Professors für Physik, als Direktor des Instituts für Kernenergie an der Akademie der Wissenschaften Weissrusslands zuständig auch für den Atomreaktor in Tschernobyl.
Exkurs: Ein kurzer Abriss über den "realen" Wassili B. Nesterenko:
"Auf einmal war nur noch von zweihundert verstrahlten Ortschaften die Rede statt von dreitausend, die es 1992 gewesen waren, und die zwei Millionen Menschen, die wegen Strahlenkrankheit behandelt werden mussten, hatte man auf fünfzigtausend heruntergerechnet" [Wassili B. Nesterenko]
Ein Mann steigt aus, wird angesichts des Entsetzens, des Sterbens und der Perfidie einer offiziellen Informationspolitik, die noch von Kollateralschäden spricht, während die Zahl der Opfer steigt und steigt, zum mutigen Streiter einer radikalen Offenlegung des tatsächlich möglichen Schadens. 1990 gründet er – mit Unterstützung Andrej Sacharows – das unabhängige Institut für Strahlensicherheit "Belrad". Er stellt Messungen an, vermittelt sein Wissen an Ärzte und Physiker, fährt mit seiner mobilen Messstation durch’s Land, insbesondere die Gebiete rund um Tschernobyl, klärt über Strahlenbelastung auf, ihre Folgen und was man zur Begrenzung tun kann. Eine Wiedergutmachung, bzw. Heilung ist meist aussichtslos.
Der Dank dafür? Repressalien, Morddrohungen, die über verbale Injurien hinausgehen und in zwei mysteriösen, anscheinend bewusst und gezielt herbei geführten Auto-Unfällen noch lange nicht enden. Sein ähnlich engagierter Kollege Juri Bandasheweski wird verhaftet und unter fadenscheinigen Gründen zu acht Jahren Haft verurteilt.
2005 erhält Nestrenko den Friedens-Preis der Stadt Bremen. Im gleichen Jahr wird der Friedensnobelpreis an die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) verliehen, jener Organisation, die sich um die nicht-militärische Verwendung der Atomenergie sorgt. Die der WHO vorschreiben kann, dass sie - bzw. beauftragte Ärzte – sich nicht um Strahlenopfer zu kümmern habe, sondern dies Sache der von der IAEO bestellten Physiker sei. Einer Organisation, deren Leiter für Reaktorsicherheit, Morris Rosen, Ende August 1986 – also gerade einmal zwei Monate nach der Tschernobyl-Katastrophe – großspurig verkündete: "Selbst wenn es jedes Jahr einen solchen Unfall gäbe, würde ich die Kernkraft weiterhin als eine interessante Energieform betrachten."
Das wahre Grauen benötigt selten mehr als eine spitzfindige Äußerung.
Ende des Exkurses
In Javier Sebastiáns Roman landet Wasja nach einer Flucht vor ominösen und hartnäckigen Verfolgern, mit zerschossenen Reifen, in Prypjat (auch: Pripjat. Die Schreibweisen außerhalb des Buchs divergieren. Das gilt ebenfalls für die Schreibung Wassili B. Nesterenkos und anderer Namen), jener Geisterstadt, 15 Kilometer von Tschernobyl entfernt, die einige Tage nach der Reaktorkatastrophe komplett evakuiert wurde. Rund 50 000 Bewohner hatten wenige Stunden Zeit, ihre unwesentlich kontaminierten Habseligkeiten (Tendenz gegen Null) zu packen und ihr Heim zu verlassen.
Doch mit der Zeit kehren Überlebende zurück. "Samjosoly" nennen sie sich und lassen sich an zentraler Stelle des Romans "samjosol" ("Einen, der wieder zurückgekehrt ist, erklärte Jana lednewa, den nennt man so.") eintätowieren. Eine kleine verschworene Gemeinschaft, die angesichts des immer präsenten Todes das Leben feiert. Fast jeder hat Verluste zu bewältigen, geliebte Menschen, die in verseuchtem Boden beerdigt wurden, Kinder die missgestaltet oder auch nur sacht anämisch ihrem nahen Ende entgegen vegetieren. Eine Vielzahl von Opfern, die in offiziellen Statistiken verschachert, verschoben, minimiert werden, bis man sie kaum noch sieht. In jener kleiner Gruppe Verzweifelter, Hoffender, (vergeblich?) Liebender gedenkt man Ihrer, während die Welt draußen nahezu unbeeindruckt weitermarschiert. Der nächsten Katastrophe entgegen.
Sebastián gibt seinen Figuren nicht nur ein Gesicht, einen Körper, sondern auch eine Geschichte. Ihm reichen wenige Worte, seine poetische und dennoch klare Sprache schafft Raum, den der Leser selbst mit Inhalten füllen kann. Wenn er von den Untersuchungen an Kindern berichtet, die allesamt dem Tode geweiht sind, braucht er keinen tränendrückenden Überschwang, keine plakative Freakshow, sondern es reichen Andeutungen, kurze Sequenzen, die wenig beschreiben und viel verraten, von dem was vorgeht in unserer Welt. In der die anscheinend hilfreiche Technik jederzeit zum Fluch werden kann. Den Menschen ausgesprochen haben und ihn weitertragen. Durch Verschweigen, Vermindern, ignorantes Überhören. Hohle Männer (und Frauen) mit der Macht und Gelegenheit, diese ohne Gnade, Berücksichtigung von Wissen und Gedanken an eine lebenswerte Zukunft zu missbrauchen.
"Der Radfahrer von Tschernobyl" erzählt davon, ohne Pathos und ohne Groll. Stattdessen entwirft er eine Gegenwelt in der ehemalige Plünderer zu Helden werden, wahre Liebende wahre Liebende bleiben und man sich mit Respekt und Achtung begegnet. Eine überschaubare Anzahl von Menschen zwar, die aber in Kauf nehmen, ihr Leben um Jahre zu verkürzen, um den Genuss wahrer Mitmenschlichkeit nicht zu verlieren.
Aber auch die, die gehen, werden nicht angefeindet, nicht einmal die, die irgendwann als Touristen vorbeikommen, um sich gegen ordentliches Entgelt vorm wild ausschlagenden Dosimeter fotografieren zu lassen.
Doch bietet das weniger Hoffnung als einen innehaltenden Moment der Trauer. Ein Fest auf den Gräbern der Opfer von morgen.
Javier Sebastián erschafft dies – und noch viel mehr – in einem spannenden Roman von knapp 220 Seiten. Er vermischt Fakten und Fiktion zu einem lesenswerten Konglomerat, das nie aufdringlich wird, nicht mit seinem Wissen prahlt und seiner Sprachkunst. Hervorragend übersetzt – soweit man dies ohne Kenntnis des Originals beurteilen kann – von Anja Lutter.
Ein Buch, das so viel zu erzählen hat, dass es geradezu überquillt; voller Humor, der die düsteren Erkenntnisse nicht verdrängt, sondern erkennen lässt, das angesichts des Wahnsinns, der Manipulation, der Lüge und des profitorientierten Betrugs, Menschen existieren, die das menschliche, tierische, pflanzliche Leben wertschätzen und sich um das Wohl der Erde sorgen.
Einer davon ist Wassili B. Nesterenko, genannt "Wasja". Dem es natürlich gelingt "Dos Kilos" den Boden der vermeintlichen Sicherheit unter den Füßen wegzuziehen. Bis man sich in Prypjat wiedertrifft, jenem Ort, der gleichzeitig Nichts und Alles bedeutet.
"Tschernobyl ist der Name jenes Ortes in der Ukraine, in dem vor fast 20 Jahren, am 26.4.1986, im Block IV des dortigen Atomkraftwerkes im Rahmen eines Experiments eine Kernschmelze und danach mehrere Explosionen eintraten. Tschernobyl ist seitdem weltweit bekannt und steht synonym für Katastrophe.
Wassilij Nesterenko ist der Name des weißrussischen Kernphysikers, der in diesem AKW tätig war – auch in den Tagen gleich nach der Nuklearkatastrophe – und der seit 1986, trotz politischer und behördlicher Widerstände, engagiert gegen die ökologischen und gesundheitlichen Folgen dieser Katastrophe und der Atomenergie insgesamt kämpft. Dieser Name ist bei uns viel weniger bekannt – er steht für Zivilcourage." [Auszug aus der Laudatio Herbert Brückners zur Verleihung des Bremer Friedenspreises 2005 an Wassilij Nesterenko]
Fazit:
Wenn Sie in absehbarer Zeit nur ein Buch lesen möchten, "Der Radfahrer von Tschernobyl" ist die richtige Wahl.
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