Gefüllte Beuteltasche Gottes
Wer den Klappentext von Andrea Molesinis Roman "Zu lieben und zu sterben" liest, fasst sich vielleicht an den Kopf und sagt: "Bitte nicht schon wieder einen dieser Weltkriegsromane." Aber schon nach den ersten gelesenen Seiten wird jeder eines Besseren belehrt. Der Italiener, der bislang eher als literarischer Übersetzer und Kinderbuchautor in Erscheinung trat, hat – sofern das so gesagt werden darf – einen feinen, sprachfeinen, einen leisen, einen leichten Anti-Kriegs-Roman vorgelegt, den es unbedingt zu lesen gilt.
Andrea Molesinis Sprache ist ein Mysterium. Der Roman, aus dem italienischen Übersetzt von Petra Kaiser und Barbara Kleiner, wirkt nicht in einer Zeile unangenehm, wenngleich er das Szenario des Ersten Weltkrieges in all seinen grausamen Fassetten beschreibt. Bei Molesini wird geraubt, besetzt, gemordet, vergewaltigt, ein Teenager, der Protagonist Paolo Spada selbst, schießt einem Soldaten ins Gesicht, obwohl sich dieser ergibt. Der Roman, oder besser das Thema, ist kein Kindergeburtstag, aber er ist von derart seltener Kraft und Schönheit, dass es schwer ist, das Buch zur Seite zu legen. Interessant ist zudem, dass der Autor seinen Plot aus nur wenigen - durch Zufall entdeckten - Tagebuchseiten geschmiedet hat. Kurzum: Die Geschichte könnte wahr sein. Sie ist es nicht, lediglich die Orte, an denen gespielt wird, sind authentisch.
Paolo Spada ist ein gebeuteltes Kind. Als er 14 Jahre alt ist, sterben seine Eltern bei einem Schiffsunglück. Im Mai 1914 sinkt die Empress of Ireland und mit ihr die Eltern des Jungen. Der wird fortan von seinen Großeltern großgezogen, die gemeinsam mit einer Tante in der herrschaftlichen Villa in Refrontolo - in der Provinz Treviso gelegen - leben. Verliebt ist der junge Paolo in seine leicht verrückte Cousine Giulia, die beständig in der Villa Spada anzutreffen ist.
Durcheinander gebracht wird die Harmonie schließlich durch das Aufkeimen des Ersten Weltkrieges. Die Deutschen requirieren die Villa Spada und machen die Familie zu Fremden im eigenen Haus.
Trotz der Dramatik der Geschichte – oder ihretwegen – ist es der Großvater, der mit Zynismus und großer Klappe der Familie Leben verleiht. Großvater ist gegen alles. Gegen die Kirche etwa. Er bezeichnet den Opferstock als "Beuteltasche Gottes" und sagt, dass die Priester es seien, die "von uns allen den geringsten Glauben" haben. Er lästert über den Don des Dorfes und lässt kein gutes Haar an Kirchgängern. Dem Krieg steht er mit Skepsis gegenüber, weil es nur Verlierer geben kann. Über die Tante, die Tochter seines Bruders, sagt er, sie sei so pedantisch, perfekt, dass sie "selbst bei einem Henker noch von guten Manieren spreche, wenn er nur die Schlinge formvollendet umlege." Seine Schreibmaschine heißt Beelzebub und das Wort "Herz" benutzt er nie. Aber er hatte eines, ein sehr großes.
Die Nationalität der Besatzer wechselt. Die Familie bleibt, spioniert für den Feind. Gelästert wird viel: "Der rote Löwe im Wappen, getragen von einem doppelköpfigen Raubvogel, wirkt nicht so finster wie der preußische Adler."
Der Witz verliert sich auch nicht, als die Geschichte ins dramatische kippt. Als Großvater und Paolo dem Gutsverwalter helfen, einen englischen Offizier zu retten. Die Rache ist verkündet und Paolo versucht zu flüchten. Die Flucht gelingt zunächst und der junge Mann lernt in kürzester Zeit, "zu lieben und zu sterben". Was er erträgt, erträgt kein Erwachsener, ohne dass Traumata ihn zeichnen.
Paolo hat Glück, übererlebt wie durch ein Wunder. Dem Gutsverwalter droht der Tod durch Erschießen. Dem Großvater auch. Der bittet noch darum, angebunden zu werden, damit ihm in letzter Sekunde nicht die Knie wegsacken. Zynisch bis zum Schluss.
Molesini, Professor der italienischen Literatur in Padua, verbindet Remarques Kriegsdrama "Im Westen nichts Neues" mit Lampedusas Familiensaga "Der Leopard". Und heraus kommt kein Zerrbild, sondern eine Darstellung von soldatischer Pflichterfüllung, Kriegsgreuel, Patriotismus, Liebe, Hass, Rache, Stolz, Standesdünkel und Leidenschaft. Er zeigt auf, wie aus den Begegnungen zwischen Menschen wie Besetzern und Besatzern, zwischen Zivilisten und Militärs, Menschen mit humanen Umgangsformen, plötzlich Menschen werden, die jegliche Achtung dem anderen gegenüber verlieren. Letztendlich siegt die Gesetzlichkeit des Krieges und nicht der Intellekt einzelner, die gegen ihn Stellung zu beziehen suchen.
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