Das Erwachen

  • : edition fünf, 2010, Titel: 'Das Erwachen', Seiten: 240, Übersetzt: Barbara Becker, Karen Nölle und Christine Gräbe
Das Erwachen
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Kathrin Plett
851001

Belletristik-Couch Rezension vonJan 2013

Im goldenen Käfig

Edna Pontellier hat alles, was sich eine Frau gegen Ende des 19. Jahrhunderts erträumen kann: Mit Ende zwanzig ist sie verheiratet, ihr Mann ist erfolgreich und ermöglicht ihr ein Leben in der oberen Gesellschaftsklasse. Sie muss nicht arbeiten und hat dennoch alles, was sie sich wünscht. Die beiden Söhne werden von Kinderfrauen betreut, so dass sich Edna voll und ganz ihren Interessen und den schönen Dingen des Lebens zuwenden kann. Wie jeder andere Ehemann zu dieser Zeit erwartete auch Léonce Pontellier von seiner Ehefrau, dass sich diese um Haus, Kinder und natürlich auch um seine Belange kümmert und ihn vor allem in der Gesellschaft gut repräsentiert.

Bereits zu Beginn ihres Sommerurlaubs auf Grand Isle, einer Insel nahe New Orleans, spürt Edna in Gegenwart der anderen Frauen, dass sie ihr Leben nicht mehr erfüllt. Während die Gedanken der anderen Frauen scheinbar nur um Kinder und Haushalt zu kreisen scheinen, ist es für Edna nicht nachvollziehbar, "warum sie Nachtkleider für den Winter zum Gegenstand ihrer sommerlichen Überlegungen machen sollte". Vielmehr gilt ihr Interesse Robert Lebrun, dem Sohn der Vermieterin. Nachdem sie immer mehr Zeit miteinander verbringen und beide Gefühle füreinander entwickeln, reist Robert überstürzt ab und flieht vor der Liebe, die es nicht geben darf.

Doch die plötzliche Trennung löst bei Edna einen Wandel aus: Sie beginnt, gegen ihr Leben im goldenen Käfig zu rebellieren. Auch wenn sie die gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit nie wirklich nachvollziehen konnte, hatte sie sich ihnen bisher weitestgehend unterworfen. Der Verlust der Liebe stellt nun nicht nur ihre Ehe in Frage, ihr ganzes Leben gerät aus den Fugen und Edna beginnt, ihr eigenes Leben zu leben, frei und unabhängig von jeglichen Vorgaben, Zwängen und Konventionen.

Die Handlung des Romans "Das Erwachen" von Kate Chopin scheint aus heutiger Sicht zunächst befremdlich. Für die meisten Frauen ist inzwischen selbstverständlich, dass eine Frau ihr eigenes Leben führt und ihr Leben aus weit mehr als Kinder, Küche, Kirche besteht. Erst der Blick auf die Entstehungszeit macht deutlich, welche Schlagkraft der Roman seiner Zeit gehabt haben muss. 

"The Awakening", wie die Geschichte im englischen Original heißt, erschien erstmals im Jahr 1899 in Amerika und löste mit seinem "brisanten" Inhalt zunächst einen Skandal aus. Erst 1978 wurde das Buch in deutscher Sprache veröffentlicht.

Kate Chopin selbst starb bereits vier Jahre nach Erscheinen ihres Werks, so dass sie den späteren Erfolg ihres Buches nicht mehr erleben durfte. Von Kritikern zerrissen, wurde ihr Roman Jahrzehnte lang nicht gedruckt, bevor er als frühes Werk der Frauenbewegung große Bekanntheit erlangte. 

Chopin schildert in ihrer Story einfühlsam den Entwicklungsprozess Edna Pontelliers. Die Protagonistin fühlt immer stärker, dass sie mehr vom Leben erwartet, als das Anhängsel eines reichen Mannes zu sein. Die Autorin geht auf die Gedanken Ednas ein, so dass der Leser den Prozess, der sich in der Wahrnehmung und Denkweise der jungen Frau abspielt, verfolgen kann. In den Interaktionen mit den anderen Figuren ist immer deutlicher zu erkennen, dass Edna ihrer Zeit voraus ist. Sie beginnt zu hinterfragen: Sich selbst, ihre Ehe und darüber hinaus auch die gesellschaftlichen Konventionen. Sie ist nicht länger bereit, Gegebenes als gegeben hinzunehmen und beginnt die Regeln zu brechen. Chopin gelingt es dabei eindrucksvoll, dem Leser die Zweifel und die Verzweiflung Ednas und das Gefühl des "gefangen seins", nahe zu bringen. Edna steckt in einem Dilemma, aus dem es für sie in ihrer Situation keinen Ausweg zu geben scheint.

Chopins Roman ist ein eindrucksvolles Monument voremanzipatorischer Geschichte. Das Buch verdeutlicht einmal mehr, wie ausweglos die Situation für viele Frauen vor der Frauenbewegung gewesen sein muss und welche Bedeutung die individuelle Freiheit nicht nur für Frauen, sondern für jeden einzelnen bedeutet.

Ein Roman, der nachdenklich stimmt und auch nach über hundert Jahren noch äußerst lesenswert ist.

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