Der Überlebende

  • Frankfurt: S. Fischer, 2013, Titel: 'Der Überlebende', Seiten: 320, Originalsprache
Der Überlebende
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Wolfgang Franßen
881001

Belletristik-Couch Rezension vonMär 2013

Es gibt keine dreibeinigen Hocker mehr.

Was, wenn man am Ende übrig bleibt? Wenn alle, die einem einmal wichtig waren, auf der Strecke geblieben sind, und man trotzdem den finalen Sieg nicht davon getragen hat? Ernst-Wilhelm Händler erzählt in seinem neuen Roman die leicht unterkühlte Geschichte eines Leiters für Elektrotechnik in Leipzig, der ohne Wissen seines Vorstands seine geheime Forschung vorantreibt. Er bezieht den Kosmos mit all seiner Unergründlichkeit, die Suche nach Gott, die graue Existenz der oberen Führungsebenen ebenso ein, wie den neuesten Stand der Forschung von künstlichen Intelligenzen und die an Big Brother erinnernden Verhandlungsmethoden moderner Konzerne.

Mitunter verwirrt er seine Leser, wenn er die Zeiten, die Erzählstruktur wechselt. Um herauszufinden, warum Burgi entlassen und wieder eingestellt wurde, warum aus Peter und Sondra ein so merkwürdig stummes Liebespaar geworden ist, wie es kam, dass Maren, die Frau des Ich-Erzählers, sich in Mexiko an den Instrumenten eines Arztes infizierte und an Muskelschwund erkrankte. Um schließlich auf den finalen Seiten sich ganz der Tragödie eines gescheiterten Mannes hinzugeben, der seiner Tochter bis nach Bogota nachreist, ihren Tod jedoch wegen einer fehlgeleiteten SMS nicht mehr aufhalten kann.

Fast schon zynisch endet so ein Roman, der an Distanz und logischem Denken kaum zu überbieten ist. Leidenschaftlich höchstens in den neuesten Forschungsergebnissen oder Gewinnerwartungen. Glückselig beim Erkunden des Gottesbegriffs. Verspielt bei der manischen Untersuchung eines Würfels, der in Pompeji gefunden wurde. Das Denken sandet die Geschichte, die zum Zufluchtsort eines einsamen Mannes geworden ist. Alles lässt sich schließlich in Zahlen festhalten, man sich selbst zu einem Seismographen bündeln, der die Schwachstellen des gesellschaftlichen Systems ortet.

Gegen Ende des Buches behauptet der Ich-Erzähler, dass er zu Atrozitäten fähig ist. Welch wunderbare Verschleierung in einem Fremdwort. Nichts anderes bedeutet es als Schonungslosigkeit, Unbarmherzigkeit, Unmenschlichkeit, Zynismus gar Sadismus. Indem der Ich-Erzähler dieses Wort zwischen sich und die Welt schiebt, tut er das, was er kann. In der Analyse, in der Brechbarkeit, in der Entfremdung durch eine Formel die um sich greifende Kälte abmildern.

Schließlich gilt es, Erfolg zu haben. Um den "Op Time" herauszufiltern, den frühen Markteintritt, der die Konkurrenz unter Druck setzt. Es geht um Patente, die anderen vorenthalten werden müssen. Es geht um Bestechung bei der Dresdener "Phoenix" wegen einer Kopie von "Loud Plane". Händler schafft es, in genauen Szenen zwischen Vertuschung und Offenbarung das Spiel zwischen Controllern und Entwicklern anzuheizen.

Dabei haben wir immer gedacht, es sind die Aktionäre, die das Leben in der Wirtschaft so furchtbar machen, aber bei weitem nicht. Die betriebsbedingte Hölle offenbart schon der "Total Recall", die vollkommene Überwachung der Belegschaft, das genaue Orten, wer sich gerade wo, in welchem Raum befindet.

Dass der Ich-Erzähler zwar von sich behauptet, dass es ihm vor allem an Bodenhaftigkeit gelegen ist, verwundert wiederum nicht. Viel zu sehr hat er sich selbst enthemmt. Die ALS-Erkrankung seiner Frau macht ihn zu einem hilflos durchs Krankenhaus Irrenden, der sich keine Wege merken kann. Unfähig zur Empathie vermag er nicht loszulassen und begreift das Sterben seiner Frau als persönlichen Feldzug gegen die Ärzteschaft.

Wie sehr muss ein Mensch sich vereinsamt haben, der behauptet, wer keine Freunde besitze, müsse sich auch keine Gesichter merken. Sie lieber auf einem Karoblock nachzeichnet. Von sich selbst behauptet er, dass ihn Marens Krankheit und der Verdacht gegen Peter und Sondra zerstrahlt hätte. Was für ein Ausdruck. Man sieht hier einen Menschen, der es seit langem nicht mehr schafft, aus seinem Denken auszusteigen.

"Plötzlich vor dem Hintergrund aller erneut möglich gewordenen Möglichkeiten, waren wir wieder scharf geschnittene Figuren."

Das Leben als größtmögliche Variable. Schließlich ertrinken wir ja "in Wahrheiten". Früher habe es immer geheißen, wir ertränken in Lügen, aber in der modernen Welt bringe die Flut an Erkenntnissen die Lüge der Wahrheit mit sich. Heißt es im Roman. Was sollen wir also glauben? 

In der Schule gequält, von seinen Mitschülern in der Umkleidekabine bloßgestellt, indem sie ihm die Kleider abnahmen, hat der Ich-Erzähler immer alles anfassen müssen, was er essen sollte. Durfte er es nicht, konnte er es nicht essen. Verwundert es da, dass dieser Mensch auf der Suche nach einer Weltformel für sich ist und ihm das normale Leben außer Sicht gerät? Schließlich kann niemand beweisen, dass er lebt, heißt es im Roman. Nach all den technischen Erkenntnissen stellt sich unweigerlich die Frage, haben wir Gott erfunden, um morgens aus dem Bett zu kommen, um unserer Seele Frieden zu geben? Ist es nicht egal, wer über die Menschen herrscht. Früher die Götter, heute die Technik.

Ernst-Wilhelm Händler hat einen facettenreichen, klugen Roman über den Fortschritt geschrieben. Der menschlichen Tragik jene Rolle zugeschoben, die sie seit Menschen Gedenken erschüttert.

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