Weise wird man, indem man durch die Hölle geht
Was bewegt einen Menschen, die Einsamkeit zu suchen und sich darin ein zufriedenes Leben aufzubauen. Susanna Tamaro gibt mit "Mein Herz ruft Deinen Namen" darauf eine von vielen möglichen Antworten. Sie lässt den einstigen Kardiologen Matteo erzählen, wie er vom mechanischen Reparieren von Herzen zum Heilen von Herzen übergegangen ist. Was sich zunächst nach einer allzu klischeehaften und süßen Geschichte anhört, entpuppt sich schnell als tiefgründige, philosophische Lebensbetrachtung. Mattes Rückzug in die Einsamkeit der Berge, wo er Schafe hält und Gemüse zieht, um sich selber zu versorgen, hat grundsätzlich nichts mit religiöser Menschenfreundlichkeit zu tun, sondern ist eine selbstkritische Auseinandersetzung mit einem verpfuschten Leben. In gewissem Sinne ist es auch eine Flucht vor sich selber, die Matteo dazu brachte, inne zu halten und seinem Leben eine neue Wendung zu geben.
Die Weiche in Mattes Leben wird gestellt, als seine Frau Nora tödlich verunfallt. Der bis zu diesem Zeitpunkt glückliche und erfolgreiche Arzt hadert mit dem Schicksal. Der Unfall ist unerklärlich, es steht die Frage im Raum, ob sich Nora das Leben nehmen wollte. Mit dieser Vorstellung kann Matteo ebenso wenig umgehen wie mit der bloßen Tatsache des Verlusts. Hier setzt die Stärke des Romans den Hebel an. Matteo versinkt mehr und mehr in Selbstmitleid und begibt sich auf einen zerstörerischen Kurs – nicht nur sein eigenes Leben wird durch seine Alkohol-Exzesse belastet, auch dasjenige der Menschen, die ihn lieben. Hier besteht nun die Gefahr, den Protagonisten zu rechtfertigen und ihn zu einer Art verzweifeltem Märtyrer zu machen – Die Autorin weiß aber offensichtlich um diese Klippe und umschifft sie geschickt. Das Bild, das sie von Matteo zeichnet ist ungeschminkt und bar jedes Versuchs, ihn zu erklären. Indem die Autorin Matteo selber erzählen lässt, gibt sie dem Leser die Möglichkeit, sich sehr direkt mit der Situation auseinander zu setzen.
Wie weit darf Verzweiflung gehen? Diese Frage begleitet Matteo durch den ganzen Roman. Der Leser weiß von Anfang an, dass der Protagonist seinen Frieden mit sich gemacht hat – immerhin begegnet der Leser Matteo gleich zu Beginn der Geschichte in dessen bescheidener Behausung in den Bergen. Und Matteo erzählt. Seine Worte richten sich zwar nicht an den Leser, sondern an die tote Nora. Doch dieses Detail verflüchtigt sich so schnell, dass nur wenige Seiten nach dem Einstieg in den Roman die unverrückliche Gewissheit einer persönlichen Zwiesprache mit dem geläuterten Matteo aufkommt.
Vieles, was in Mattes Leben passiert, hinterlässt Spuren von Trauer, Wut, Unverständnis und Ablehnung beim Leser. Susanna Tamaro schenkt ihm nichts – weder Matteo noch dem Leser. Sie legt den Finger auf die offene Wunde, sie hält den Spiegel vor und stellt unbequeme Fragen. Dadurch ist ein philosophischer Roman entstanden, der stark in die Tiefe geht und den Leser, der offen genug ist dafür, in seiner Seele berührt. Durch diese unvermittelte Nähe zur Gefühlswelt des Lesers polarisiert Tamaro mit ihrem Roman aber auch. Sie ist sich dessen bewusst, nimmt die unterschiedlichen Reaktionen quasi auf und verarbeitet sie in ihrem Roman, indem sie Matteo verschiedene Besucher schickt, die ganz unterschiedlich auf den freiwilligen Eremiten ohne religiösen Hintergrund reagieren. Von totaler Ablehnung bis zur uneingeschränkten Bewunderung ist alles dabei.
Zweifellos kennt Tamaro die Psyche der Menschen. Sie nimmt die Abgründe auf und verarbeitet sie zu einem bewegenden Roman. Dass sie dabei in der Lage ist, sich von abgeschmackten Klischees fern zu halten, gibt ihrer Geschichte die Basis, auf der etwas Schönes wachsen und gedeihen kann. So, wie die Tiere und Pflanzen auf Mattes Alp. Und obwohl sich die Uhr nicht zurückdrehen lässt, Mattes Abgründe nicht kleiner werden, wird der Leser letztlich mit dem Leben wieder versöhnt sein. Und nimmt eine Portion Nachdenklichkeit und wohl auch einen Hauch Demut aus der Geschichte mit.
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