Gleis 4
- Luchterhand
- Erschienen: Januar 2013
- 2
- München: Luchterhand, 2013, Seiten: 224, Originalsprache
Aus Afrika bekam man kein Geld, nach Afrika schickte man welches.
Isabelle Rast ist eine ganz normale Frau, wie auch immer normal definiert werden kann. Getrennt zwar, alleinerziehend, aber scheinbar glücklich und keineswegs mit sich hadernd. Gerade erst wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen, die Gallensteine wurden entfernt, und nun plant sie, ihrer Freundin in den Urlaub nach Stromboli nachzureisen. Aus der Reise jedoch wird nichts. Ein Tod durchkreuzt die Pläne. Der Tod eines Mannes, dessen unbekanntes Leben Isabelle fesselt. Franz Hohler, gerade erst hat der Schweizer seinen 70. Geburtstag gefeiert, legt mit Gleis 4 wieder einen dieser feinen, sensiblen Romane vor, die dennoch an so mancher Stelle mit giftigen, galligen Überraschungen aufwarten.
Der Einstieg ist der Ausstieg: Ein Mann fragt am Bahnhof eine Frau, ob er ihr den Koffer abnehmen könne. Oberhalb der Treppe bricht der Mann zusammen und ist tot. Isabelle Rast, ihr gehörte der Koffer, macht sich Vorwürfe. Der Koffer sei zu schwer gewesen, der Mann habe sich überanstrengt, hätte sie sich selbst geholfen, wäre sie ein Mann? Isabelle ist verwirrt, wird von der Polizei befragt und steckt nichts merkend die Mappe des unbekannten Toten ein. Der Inhalt: Eine Zeitung und ein Handy.
An Urlaub ist fortan nicht mehr zu denken. Isabelle fühlt sich elend, noch elender, als das Handy klingelt. Anruf für einen Toten. Isabelle kontaktiert ihre Tochter Sarah, die eigentlich mit sich selbst sehr viel zu tun hat: Erwachsen werden, studieren, Leben organisieren, sich ständig fragen, warum sie sich so gar nicht afrikanisch fühlt, obwohl ihr Vater aus der Republik Mali stammt. Junger Assistenzarzt sei er damals gewesen, in Genf. Als Isabelle erfuhr, dass er bereits Frau und Kinder hatte, war es "zu spät". Sie war schwanger. Isabelle stellt keine Anforderungen, zieht ihre Tochter alleine groß und vertritt den Standpunkt:
"Aus Afrika bekam man kein Geld, nach Afrika schickte man welches."
Tochter Sarah indes sucht verzweifelt ihre Wurzeln, will Anwältin werden, um denen zu helfen, die sonst keine Chance haben, "in unserm viel gerühmten Land". Gemeint ist die Schweiz. Immer wieder setzt es Hiebe gegen die Schweiz, gegen die Ausländerpolitik, gegen die schöne Landschaft, die die Schweizer trotzdem nicht zu besseren Menschen werden lässt, gegen die Sauberkeit. Franz Hohler klingt dabei nicht böse, eher lieb in all sein Boshaftigkeit. Er verteilt Seitenhiebe und zwinkert dabei mit den Augen. Abrechnungen sehen anders aus.
Was zunächst wie eine ganz gewöhnliche Geschichte beginnt, entwickelt sich zum detektivischen Plot. Und zum Hang der Menschen, fremde Schicksale ans Tageslicht zu befördern. Denn der tote Mann in Hohlers Geschichte weist eine doppelte Identität auf. Isabelle, Sarah und die Witwe des Toten, begeben sich auf Spurensuche. Dabei begegnen sie unangenehmen Menschen, aber etwa auch Beamten, die nach anfänglichen Querelen durchaus sehr hilfsbereit sind. Unerwartet hilfsbereit. Hohler dreht die Geschichte um, scheinbar unsympathische Menschen begeistern und die sympathischen kehren die unschöne Seite heraus.
Ein wunderbarer Roman, leicht zwar, aber mit Tiefgang. Hohlers Sprache ist schön. Präzise und verständlich, was durchaus davon ablenkt, dass Hohler innerhalb des Plots gewaltige Sprünge wagt. Das allerdings ist der einzige Negativpunkt. Ein schöner Roman, voller feiner Spitzen, voller versteckter Besonderheiten, voller versteckter Bosheiten, die zu entdecken es sich lohnt. Bis zum Schluss. Ein Epilog folgt und taktisch klug deckt der Autor auf, was zuvor noch ein Mysterium war: Martin - alias Marcel - erklärt sein Leben und wie er dazu kam, seine Identität gegen eine andere zu tauschen. Lasst die Toten sprechen. Klug gelöst.
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