Zorngebete

  • Berlin: Klaus Wagenbach, 2013, Seiten: 128, Übersetzt: Sabine Heymann
  • Paris: Éditions Léo Scheer, 2008, Titel: 'Confidences à Allah', Originalsprache
Zorngebete
Zorngebete
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Sebastian Riemann
781001

Belletristik-Couch Rezension vonMai 2013

Emanzipation mit dem Glauben an Allah

Der Debütroman Azzeddines ist eine vulgär erzählte Geschichte über Emanzipation, gefühllosen Sex und Erniedrigungen, welche die Leser schockiert und fasziniert aufgrund einer unverblümten Sprache, die sich über Gesellschaft und Religion in Marokko ergeht. Ein junges Mädchen, schön in einer kargen und hässlichen Welt, erhält ein Geschenk von Allah, welches ihr im rechten Moment die Flucht aus der Ödnis ermöglicht und sie auf den Weg schickt in der städtischen Welt zu leiden, zweifeln, hassen und auch lieben. Auf mehreren Stationen erfährt Jbara, so der gebürtige Name der Protagonistin, viel Unrecht und Schmerz, manchmal ein wenig Glück und Zuneigung. Sie arbeitet als Putzfrau und Hausangestellte bevor sie erkennt, dass der professionelle Verkauf ihres Körpers das Einzige ist, was sie finanziell dorthin bringen kann, wo sie gern sein würde. Sie wird auf der Sex-Party eines Scheichs verhaftet, verbringt drei Jahre im Gefängnis und heiratet später einen Imam, einen Mann Gottes. Das Buch ist gefüllt mit Sünden, Perversionen, den Irrwegen und der Kraft des Glaubens. Jbara vertraut Allah und kämpft sich durch das babylonische Chaos moderner Städte, ihre Emanzipation ist schmerzvoll, beeindruckend, mitunter verwirrend.

Die marokkanisch-französische Autorin Saphia Azzeddine feierte mit Zorngebete (Confidences à Allah im Original) den Auftakt ihrer literarischen Karriere. Bereits im Jahre 2008 veröffentlicht wurde dieses erfolgreiche Buch nun endlich ins Deutsche übersetzt und dürfte auf eine Schar interessierter Leser treffen, die sich eine neue Sicht auf das Phänomen Islam erhoffen. Der zweite Roman Azzeddines Mein Vater ist Putzfrau wurde bereits verfilmt und lief auch in deutschen Kinos an. Die Autorin ist in Marokko geboren und in Frankreich aufgewachsen, sie arbeitet als Drehbuchautorin und Schriftstellerin.

Wütend rechnet Jbara, die junge Protagonistin, mit ihrer Herkunft ab, nichts Positives weiß sie zu berichten von ihrer Kindheit in der bergigen Wüste Marokkos. Arm und elendig ist das Leben mit ihrer Familie gewesen, es gab Nichts außer Gestank und dümmlicher, ländlicher Religiosität, die den Trottel, ihren Vater, gnadenlos einspannte. Ihre Mutter weinte jeden Tag, ertrug aber den Vater und die Religion. Eine trostlose Zukunft schwebte der jungen Jbara vor Augen und nährte den Wunsch nach einem anderen Leben. Schneller als erwartet erfüllen sich die Sehnsüchte, da Jbara überraschend schwanger ist und von der Familie verstoßen wird. Mit einem Koffer, der ihr ebenso unerwarteten zufällt, besteigt sie den einzigen Bus, den sie kennt und fährt in die Stadt. Ihre Emanzipations- und Leidensgeschichte beginnt.

Zorngebete ist zuerst eine Verurteilung gesellschaftlicher Missstände in Marokko, besonders der Rolle der Frau, und erst in zweiter Linie eine Religionskritik. Mag die Gesellschaft noch so sehr den Koran und den Propheten heranziehen, um alltägliche Diskriminierung zu rechtfertigen, die junge Jbara erkennt in naiver, aber treffender Manier stets die willkürliche Auslegung der Religion im Sinne weltlicher Ziele. Deshalb wird Allah nicht verneint, sondern seine scheinbaren Jünger, besonders diejenigen mit viel Geld und Einfluss, kritisiert und bloßgestellt. Auf dem Land werden die Armen von selbst ernannten Islamkennern gnadenlos ausgebeutet, in der Stadt werden Moral und Anstand mit Füßen getreten, natürlich nur dann, wenn niemand hinsieht. Reiche Scheichs werfen mit Geld um sich und lachen über die Erniedrigungen Jbaras, die Alles hinnimmt, um sich ihr neues Leben leisten zu können.

Religion erscheint meist im Gewand der Ausbeutung und der Scheinheiligkeit, sobald sie in der Gesellschaft auftritt, ihren wahren Werten ist sie nur im Inneren Jbaras verpflichtet. Sie spricht mit Allah, gesteht ihm alles, ihre Verfehlungen, ihre Reue, ihre Wut, ihre Wünsche und Liebe. Mit den Regeln der islamisch geprägten marokkanischen Kultur kann sie jedoch wenig anfangen, widersprechen sie doch ihrem eigenen Verständnis von den Beziehungen zwischen den Menschen und zu Allah. Ihre Überlegungen zu Schleiern, dem Propheten und Frauen, Rollenverhältnissen in den Familien und der Bevormundung durch die Männer, sind es, die dieses Buch zu einer Emanzipationsgeschichte machen und essentiell bereichern.

Der Originaltitel Confidences à Allah bezeichnet Geständnisse, welche an Allah gerichtet sind, während die deutsche Übersetzung Zorngebete eine unmittelbare Verurteilung vornimmt. Die junge Protagonistin wendet sich nicht beliebig an Allah, es ist Zorn der aus ihr zu ihrem Gott spricht, so will es der deutsche Titel suggerieren. Aus der intimen Beziehung zwischen Jbara und Allah wird auf unzulässige Weise eine Anklage gemacht. Beides findet sich im Buch, Zuneigung und Zorn werden Allah in Gebeten entgegengebracht, es gibt jedoch keinen ersichtlichen Grund den Zorn hervorzuheben und somit bleibt fraglich wieso eine derart negativ besetzte Titelübersetzung gewählt wurde. Denn Wut und Zorn Jbaras richten sich auf diejenigen, die ihr Scham und Leid verursachen, nicht auf Allah, dem sie so gerecht, wie es ihr möglich ist, entgegentritt.

Jbara zahlt im Verlaufe ihres jungen Lebens oft mit Sex, es ist für sie nichts Außergewöhnliches Männer zu befriedigen und dafür Geschenke, Geld oder Vergünstigungen zu erhalten. Manchmal wird sie vergewaltigt. Das Erschreckende an den Vergewaltigungen ist die Nüchternheit, mit der sie geschildert und später nicht weiter beachtet werden. Die Unterwerfung des eigenen Körpers unter den Willen der Männer ist widerlich, aber offenbar alternativlos. Jbara kann nur in geringem Maß über ihr Leben entscheiden, als Frau ist sie Objekt der Lust, ohne Rechte. Sie weiß um ihre Position und so bleibt ihr Nichts, außer Erdulden und Verdrängen. Würde sie sich zur Wehr setzten wären die Folgen verheerender, ihre ohnehin heikle Situation in der Gesellschaft würde sich verschlechtern, ein Risiko, welches sie nicht eingehen kann. Eine Vergewaltigung ist grausam, hinzu kommt aber die Einsicht der Frau, dass ihr kein Ausweg bereitsteht, dass sie es auch beim nächsten Mal nicht verhindern kann.

Unverständlich wohnt man der Wendung bei, die jenen Vergewaltiger, den Arbeitgeber Jbaras, später zu dem Mann werden lässt, der ihr größte körperliche Freuden verschafft, ihren ersten Orgasmus. Azzedine wirft ihr Publikum in einen Konflikt, der im Buch als annehmbarer Widerspruch überdauert, jedoch nicht im Verständnis einer westlichen Kultur, welche die Protagonistin für ihre später empfundenen Freuden verurteilen möchte, da sie dem vorangegangenen Verbrechen die Stärke nehmen. Es sind diese Widersprüche, die unter die Haut gehen und dem Roman eine befremdende Intensität verleihen.

Ein Buch, einfach geschrieben und oft an dem Punkt, da es Vorurteile über islamisch geprägte Länder bestätigt, indem es scheinbar undifferenziert Klischees bedient. Aber auch ein Buch, welches den Glauben an Allah als die stärkste Kraft im Leben darstellt. Die Dramatik und Widersprüchlichkeit machen diesen Roman zu einem packenden Erlebnis und einer Bereicherung.

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