Nachhinein

  • Berlin: Verbrecher, 2013, Seiten: 269, Originalsprache
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Britta Höhne
651001

Belletristik-Couch Rezension vonMai 2013

Standpauke versus Arschvoll

So manchem Autor mangelt es an der schlichten Einsicht, dass weniger zuweilen mehr sein kann. Wenn es etwa im Zuge einer Szene regnet, dann regnet es, in der Form, das Wassertropfen vom Himmel fallen. Vielleicht regnet es auch aus sprichwörtlichen Kübeln – jeder kennt das. In Lisa Kränzlers Roman "Nachhinein", der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, regnet es wie folgt: "Plötzlich gedimmtes Sonnenlicht. Rauschende Bäume. Der See erzittert und sträubt seine Fläche. Blau war einmal. Der Himmel jetzt vollständig eingehüllt in grau-blau gebatikte Wolkentücher. Seine Ränder violett. Aus gelblich-schwärzlicher Ferne rollt dumpfes Grollen heran. Darauf der erste Tropfen. Hastig stopfen wir unsere Beutel. Dem ersten Tropfen folgen weitere. Bald sind sie überall. Aus Schlaglöchern werden kleine Teiche. In Straßengräben, Kanälen ohne Gondeln, fließt es Richtung Feld."

Was streckenweise schön, gar poetisch, fernab jeden Sprachmülls anmutet, türmt sich auf zu einem Sprachberg, einer Halde, die oft das Wesentliche unter sich zu begraben scheint. Was vielleicht notwendig ist, ist der Plot doch schnell zusammen gefasst. "Jasmin, vielleicht Celine, vielleicht Justine" ist die beste Freundin der Ich-Erzählerin, die "vielleicht Lotta, vielleicht Luisa, vielleicht Luzia" heißt und sich 24 Jahre später der Lockenpracht ihrer ehemaligen Gefährtin erinnert.

Kränzler mag sich nicht festlegen. Die Namen sind austauschbar, die der Kinder ebenso, wie die der Straßen oder Städte. Klar ist, alles spielt sich ab in einer Art Normaldeutschland: Auf der einen Seite die, die eine Standpauke halten und erklären, auf der anderen Seite die, die gleich mit Arschvoll reagieren. Zwei Welten, zwei Mädchen, zwei Leben, zwei Mal Alltag. Aus einmal zwei wird innerhalb des 269-Seiten langen Romans zwei mal zwei. Was mit Blutschwesternschaft beginnt, endet im versuchten Selbstmord.

Doch zurück zur Geschichte. LottaLuisaLuzias Kindheit ist wohl behütet: Akademikereltern, Klavier, schönes Haus mit Galerie, sechs Wochen Urlaub in Spanien, Empfehlung fürs Gymnasium, "Jugend musiziert"-Wettbewerb und Eltern, die sich kümmern. Von all dem wagt JasminCelineJustine nicht einmal zu träumen: Arbeiterhaushalt, der ständige Geruch von Schweiß, Alkohol, Nikotin und altem Bratfett, ein Bruder, der die Schwester begrapscht, ein Vater, der die Mutter schlägt und seine Tochter missbraucht. Ein elendes Leben, eines, was die junge JasminCelineJustine in eine andere Welt führt, in eine andere Dimension katapultiert, in die des Konsolenspiels Streetfighter 2. Während die eine am Klavier sitzt und sich den Noten hingibt, übt sich die anderen in der Flucht aus dem Leben, das sich für sie, der Versagerin, zu einem wahren Kampf entwickelt und stark an Anthony McCartens Roman "Ganz normale Helden" erinnern lässt: Einem jungen Menschen gelingt das Dasein im hier und jetzt nicht, also flüchtet er sich in eine andere, eine parallele, eine virtuelle Welt, in die des Internets.

Die Autorin Lisa Kränzler, geboren 1983, stellt die Leben der beiden Mädchen nebeneinander, dichotomisch. Vom Sandkasten bis zu dem Unfall, der LottaLuisaLuzia fast dazu bringt, ihr geliebtes Klavier spielen aufzugeben. Sexualität übernimmt dabei fast immer eine Hauptrolle. Die eine denkt sich hinein, die andere, Missbrauchte, hinaus. Oft, allzu oft, überdeckt das Körperliche alle Situationen, seien es die Begegnungen LottaLuisaLuzias mit dem grünäugigen "Ägypter", oder mit dem Cellisten, aber auch JasminCelineJustines Leben im Nintendo-Kampfspiel wird von einem sexbesessenen Master überdeckt. Zu zweidimensional wirken die Begegnungen: Im Leben der höheren Tochter derer von Braun, sie ist mit dem Nazi-Raketenbauer Wernher von Braun verwandt, und dem Arbeitermädchen, was den Sprung in die Oberstufe nicht schafft.

Lisa Kränzlers Roman weist Schwächen auf. Schwächen auf hohem Niveau. Und das darf er auch, ist es doch erst das zweite Werk der jungen Autorin, die bildende Künstlerin ist und in Freiburg wohnt. Immerhin gibt es in ihrem "Nachhinein" auch Szenen, die von Schwermut zeugen, aufzeigen und nachdenklich stimmen. Immer dann, wenn Erklärungen, Beschreibungen fehlen. Wenn die Sprache zwar schön, aber nicht überladen ist. Wenn es traurig wird, wenn der Vater sich an der Tochter vergeht und Kränzler, ganz Malerin, nur wenige Farben braucht, um dem Grauen ein Gesicht zu geben.

Eine schnell zusammen gefasste Geschichte ist kein Manko. Viele gute Filme etwa, spielen an nur einem Set. Das Überladende, das beschreiben einer Beschreibung ist es, die es schwer macht, im "Nachhinein" einen Roman zu entdecken, der für Erwachsene geschrieben wurde. Die Missbrauchsszenen einmal außer Acht, die Begierde und Körperlichkeit auch, wäre es ein wunderbares Jugendbuch über die Freundschaft zwei Mädchen. Über das werden vom Kind zum Mädchen zur Frau. Nur tritt die Autorin zu oft auf der Stelle. Kommt nicht weiter in ihrem Bemühen, eine Milieustudie hinzulegen, die zwar schön geschrieben ist, viele Jahre dauert und am Ende nicht einfach nur gängige Klischees erfüllt.

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