Auf der Suche nach sich selbst
Es ist eine skurrile Situation: Nachdem ihre Eltern für ein paar Tage in Urlaub gefahren sind, entdeckt Perla im Wohnzimmer des elterlichen Hauses in einem Stadtteil von Buenos Aires einen tropfnassen Mann, der um ihre Hilfe bittet. Die junge Frau ist ratlos. Obwohl sie sich vor der seltsamen Gestalt fürchtet, fühlt sie sich dem Mann doch verbunden. Der Mann, der nur mühsam erklären kann, dass er aus dem Wasser kommt, zwingt Perla, sich mit sich selber auseinander zu setzen und Fragen zu stellen. Fragen nach ihrer Identität. Bisher ist Perla davon ausgegangen, das Kind einer schönen, aber unnahbaren Mutter und eines bedeutenden Offiziers zu sein. Erst die Reaktion ihres Vaters auf einen gesellschaftskritischen Aufsatz in der Schule verursacht Risse im scheinbar makellosen Bild. Da sind auch die kritischen Fragen von Perlas heimlichem Freund Gabriel, der sich als Journalist intensiv mit dem Schicksal der Verschwundenen und ihrer Familie auseinander setzt. Im Gespräch mit dem unheimlichen Fremden erkennt Perla, dass sie ihre Eltern mit einem schwerwiegenden Verdacht konfrontieren muss.
Der Ansatz, den Carolina De Robertis für ihre Auseinandersetzung mit dem Thema wählt, ist bestechend. Sie konfrontiert eine junge Argentinierin mit den Gräueltaten während der Militärdiktatur und lässt sie Fragen stellen, die nicht nur das Schweigen der Eltern brechen müssen, sondern die junge Frau selber zwingen, sich mit einem Thema auseinander zu setzen, das sie an einen persönlichen Abgrund führen könnte. Die Autorin wählt allerdings einen gewagten Ansatz. Sie lässt einen der Verschwundenen wieder auftauchen und rückt damit die Geschichte auf eine höchst persönliche Art ins Bewusstsein ihrer Protagonistin. Den Leser lässt Carolina De Robertis lange Zeit im Ungewissen: Wie real ist die Begegnung des nassen Mannes mit der wohlbehüteten jungen Frau. Ist er lediglich Metapher, ist er Geist, ein Überlebender oder eine reine Einbildung der jungen Heldin, die sich – alleine im großen Haus – plötzlich mit Themen auseinander setzt, denen sie sich zunächst verschlossen hat, die aber in ihr Unterbewusstsein eingeflossen sind? Durch eine geschickte Themenführung lässt die Autorin diese zunächst drängende Frage immer stärker in den Hintergrund treten, bis der Leser schließlich verblüfft merkt, dass die Klärung nicht mehr wichtig ist.
Das Thema der Verschwundenen, das durch den nassen Mann eine sehr persönliche Note bekommt, ist nicht nur in Argentinien bekannt. Für die meisten Leser dürfte es aber bis zu diesem Roman eher ein abstrakter Teil der Geschichte Lateinamerikas gewesen sein. Carolina De Robertis rückt die Ereignisse aus der Zeit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre auf eine zwingende Art wieder ins Bewusstsein. Indem sie eine junge Heldin wählt, die sich plötzlich mit ihrer Identität auseinander setzen muss, wird deutlich, dass das Verschwinden hunderter unliebsamer Menschen nicht einfach ein Ereignis war, das zwar Wut, Trauer und Schmerz bei deren Familie hinterließ, sondern auch Folgen hat, die bis heute andauern. So arbeitet Carolina de Robertis gegen das Vergessen – und das Verdrängen eines unliebsamen Kapitels in der Geschichte eines heute von der westlichen Gesellschaft anerkannten Staates.
Sehr schön lässt die Autorin den Denkprozess der jungen Frau aufscheinen. Schritt für Schritt kann der Leser zusammen mit Perla den Schleier über den einstigen Ereignissen lüften. Es ist eine schmerzhafte Auseinandersetzung, mit der sich die Protagonistin konfrontiert sieht. Und sie teilt diesen Schmerz mit den Lesern. Denn auch wenn der jugendlich sprunghafte Charakter der Protagonistin es nicht immer einfach macht, sich mit ihr zu identifizieren, so wird sie doch zu einer so starken Figur, dass sich ihr kaum jemand verschließen mag. Zwar wird die Sympathie mancher Leser weit schneller dem nassen Mann und dessen großer Liebe Gloria gelten – ja, selbst der nur stellenweise auftauchende Gabriel scheint in vielem sympathischer als Perla – doch ist es ein Leichtes, die Entwicklung nachzuvollziehen, die Perla in dieser relativ kurzen Zeit der Abwesenheit ihrer Eltern durchlebt.
Carolina De Robertis hat trotz des schwierigen Themas einen poetischen Roman vorgelegt. Dass sie die Schluss-Passage so stark zurecht biegt und die tatsächliche Auseinandersetzung Perlas mit ihren Eltern ausklammert, ist allerdings bedauerlich. Es tut dem Buch nicht besonders gut und nimmt ihm im letzten Moment etwas von seiner Überzeugungskraft. Dennoch: Perla ist ein lesenswerter Roman, der wohl für viele ein Anstoß sein wird, sich intensiver mit dem Schicksal der Argentinischen Bevölkerung in den Zeiten der Militärdiktatur auseinander zu setzen.
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