Ich schlage vor, dass wir uns küssen

  • Piper
  • Erschienen: Januar 2010
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  • München: Piper, 2010, Seiten: 208, Originalsprache
Ich schlage vor, dass wir uns küssen
Ich schlage vor, dass wir uns küssen
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Kathrin Plett
741001

Belletristik-Couch Rezension vonJul 2013

Über die Bedrohlichkeit von Liebesbriefe eines 16-Jährigen

Die DDR ist lange Geschichte und auch Herr W. - der selbst Bürger der damaligen Volksdemokratie war - hat längst mit seiner dortigen Vergangenheit abgeschlossen. Bis ihn eines Tages eine Einladung per Post erreicht: Er soll im Rahmen einer Podiumsdiskussion unbekannter Untergrunddichter Auskunft über sein Werk, über die Unterdrückung in der DDR und über seine Erlebnisse als Staatsfeind geben.

Nur, Herr W. war bis dato völlig unbekannt. Ihn irritiert, dass er ein bekannter Dichter gewesen sein soll. Ein Irrtum? Nein. Denn: "Dank" der Stasi, die ihn als potentiellen Gefahrenfaktor für die staatliche Ordnung eingestuft hatte, blieb keine seiner Aktivitäten unentdeckt und vor allem seine Schriftwerke, sei es in Form von Briefen oder privaten Lyrikversuchen, waren von höchstem Interesse. Denn, was sich in die Liebesgedichte eines 16-jährigen Berliners an seine Freundin in München alles hinein interpretieren lässt, ist außerordentlich abenteuerlich und aus heutiger Sicht  auch äußerst unterhaltsam.

Als Herr W. die Einladung zu einer Podiumsdiskussion erhält, bei der er Studenten Auskunft über die Unterdrückungen der DDR und seine Erlebnisse als Rebell gegen den Staat geben soll, kann er es zunächst kaum glauben. Er soll Staatsfeind gewesen sein, ein unbekannter, unterdrückter Untergrunddichter? Hält er es zunächst noch für einen Irrtum, beginnt er Nachforschungen anzustellen. Er stellt einen Antrag auf Einsicht in seine Stasi-Akte, die tatsächlich entsprechendes Material enthält: Seine ersten lyrischen Versuche, denen er den Titel "Mögliche Exekutionen des Konjunktivs" gegeben hat, daneben Liebesbriefe an seine Münchener Freundin Liane. Abgeheftet und durch Oberleutnant Schnatz, bei dem alle Beobachtungen über ihn eingingen, gelesen und Wort für Wort analysiert und mit haarsträubenden Interpretationen versehen.

Rayk Wieland, der 1965 in Leipzig geboren wurde, ist Satiriker und Schriftsteller. Zunächst machte er jedoch eine Ausbildung zum Elektriker, bevor er sein Studium der Philosophie begann. Anschließend arbeitete er als Redakteur für Zeitung, Funk und Fernsehen und lebt heute als Autor und TV-Journalist in Hamburg.

Ray Wielands Roman liefert durch seine ironische Schreibweise eine andere Art der Darstellung der DDR, die vor allem für die Menschen interessant sein wird, die das DDR-Regime nicht selbst miterlebt haben und für die es kaum noch vorstellbar ist, wie weit staatliche Überwachung gehen konnte. Jeder kleinste Schritt der Bevölkerung wurde kontrolliert, Freunde beobachteten sich gegenseitig. Öffentlichkeit beginnt, sobald ein weiterer Mensch anwesend ist, erklärt Schnatz dem jungen Herrn W. einmal treffend, was die Situation der Bespitzelung gut beschreibt. Vor allem die Briefwechsel, die W. mit Liane führt, sind dem Oberleutnant ein Dorn im Auge und "eine Fundgrube mit "objektiven Vorstößen", "feindl. neg. Inhalten", "Verschleierung d. Verbind.", "konkreten Republikflucht-Vorh.", die es "aufzuklären", "zu erfassen", "weiter zu erfassen", "zu verhindern", "umfassend zu beseitigen" und vor allem "objektiv zu bearbeiten" gilt. Jahre später, die DDR ist längst Geschichte, findet W.  schließlich zahlreiche seiner frühen Schriftwerke im "voluminösen Paket, zweimal 300 Seiten" in seiner angeforderten Akte unter dem Decknamen "Spiegel" in seiner Post. Gesammelte Observationen, die Anfang der 80er Jahre begannen und jeden Schritt des damals 16-jährigen W. zu überwachten.

Voller Ironie und Satire erzählt Rayk Wieland die Geschichte, die seinen Worten zufolge auf der wahren Begebenheit beruht, dass es die DDR wirklich gegeben hat. Dennoch, es lässt sich erahnen, dass dem Buch noch mehr "wahre Begebenheiten" zu Grunde liegen, weist die Handlung doch zahlreiche biografische Parallelen auf, die der Autor immer wieder in Frage stellt, so dass man sich als Leser nie sicher sein kann, wie autobiografisch die Geschichte etwa ist. Vor allem Auszüge aus den Stasi-Original-Akten im Anhang, mit den entsprechenden Kommentaren zeigen, wie nah das Buch der Realität kommen muss. Einer Realität, die aus heutiger Sicht völlig abstrus erscheinen mag. Doch gerade diese kaum vorstellbare Realität, die immer wieder Zweifel aufkommen lässt, macht den Reiz des Buches aus. Als Satiriker gelingt es Wieland brillant, den Leser in seinen Bann zu ziehen und selbst den ersten Hintergrund mit Ironie und Geist spannend und komisch zu erzählen. Vor allem die Originalkommentare sind unterhaltsam und geben dem Buch seine besondere Authentizität.

Ich schlage vor, dass wir uns küssen

Rayk Wieland, Piper

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