Aus der Zeit fallen
- Carl Hanser
- Erschienen: Januar 2013
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- München: Carl Hanser, 2013, Seiten: 128, Übersetzt: Anne Birkenhauer
Die lyrische Kraft des Schmerzes
Autobiographisch geprägte Bücher sind beliebt. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass der Titel unwichtiger als der Autorenname wird, mehr noch: Die Person des Autors den gesamten Text überlagert. Gleich, ob diese Entwicklung zu begrüßen ist, oder nicht (in jedem Fall ist sie Ausdruck eines verzweifelten Rufens nach Authentizität) – sie kann prekäre Situationen erzeugen. So zum Beispiel, wenn man wie hier ein Buch bewerten soll, in dem es um den Tod eines echten Menschen geht: Uri Grossman, dessen Vater der Autor von Aus der Zeit fallen ist. Kurz: Es wäre pietätlos, eine solche Verschriftlichung zu bewerten.
Allerdings geht es in dem Buch nicht um den Tod des Sohnes an sich, sondern um die Auswirkungen, die er bei geliebten Menschen verursacht. Was hier also bewertet wird, ist der Ausdruck dieser Erfahrung, nicht ihre unantastbare Essenz.
Für den Ausdruck hat Grossman eine Form gewählt, die auf den ersten Blick einem Drama gleicht: Verschiedene Stimmen, die nie Namen besitzen, sondern mit offenen Ausdrücken wie "Frau", "Zentaur" oder "Chronist der Stadt" benannt werden, sprechen lyrisch anmutende Verse, die sich wie Dialoge umschlingen, aber doch immer ein Stück weit auseinanderlaufen: Hier wird alles andere als eine flüssige Geschichte erzählt.
Literarisch ist Aus der Zeit fallen also vor allem ein Faszinosum; eines, das man kaum durchdringen kann, weil es die Grenzen zwischen Drama, Epos und Lyrik radikal durchbricht. Dadurch gewinnt Grossman aber auch die Chance, neuartige Leseerfahrungen zu ermöglichen: Starke Leseerfahrungen, die nicht die Wiederkehr der Grenzerfahrung Grossmans sind. Leseerfahrungen, die nichts mit Voyeurismus zu tun haben. Es sind Worte, die den Vorstellungshorizont des Lesers durchbrechen. Wenn ein dichtender Zentaur spricht:
"Ich bin es, der wie Beute im Maul des Absoluten zappelt."
Dann weiß man nicht, wer spricht: Ist es Grossman, der über den Tod seines Sohnes spricht? Ist es ein Lyriker, der an seinem Sujet verzweifelt? Was der Leser mit eigenen Gedanken auffüllen muss, ist ein Mosaik mit Leerstellen: Er wird gefordert, sich etwas vorzustellen, das man sich nicht vorstellen kann. Möglicherweise hat das mit dem Tod des Sohnes zu tun – aber doch ist es keine Aussage über den Tod des Sohnes.
Auf diese Weise wird das autobiographische Moment des Buches aufgelöst. Denn: Obwohl das Wissen um die Todeserfahrung der Schlüssel zu diesem Werk ist, dreht sich das Buch nicht allein um die Erfahrung, sondern um Ausdrücke, Eindrücke und Wiedergabe der Auswirkungen einer solchen Erfahrung, einer Erfahrung dieser Art, die nicht einfach so benannt werden kann.
Obwohl Grossman sich damit von den Archetypen literarischer Formen entfernt, lässt er sich dann doch am besten mit den ganz alten Begriffen umschreiben: Dieses Buch ermöglicht Katharsis durch die Konfrontation des Lesers mit dem Maul des Absoluten. Und es ist ein Maul, das gelegentlich nach jedem schnappt, dabei aber verschiedene Gesichter trägt: Die Erfahrung an sich tritt dadurch in den Hintergrund, wichtig werden die Auswirkungen und der Umgang mit, nicht die treffsichere Beschreibung der Grenzerfahrung – denn letztere ist schlichtweg nicht möglich.
Es kann gut sein, dass das Buch für viele Leser unnahbar sein wird, weil es alleine und für sich gesehen vollkommen unverständlich ist: Es benötigt die Ausfüllung vieler Leerstellung mit eigenen Erfahrungen, Ideen, Träumen und Alpträumen. Zu den größten Künsten des Lesens wird hier gehören, dieses Buch überhaupt unter einer Vorstellung zu lesen – und dann kann dieses Buch großartig sein. Aber es benötigt einen aufgeschlossenen Leser, der sich Unvorstellbarkeit vorstellen will. Und das, unterm Strich, zeichnet letztlich jedes gutes Buch aus: Den Leser zu einer Erfahrung führen, die seinen Horizont durchbricht und erweitert. Manche Bücher machen es einem leichter, dieses hier schwerer. In Anbetracht des Themas ist das aber kaum verwunderlich.
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