Ein deutscher Sommer

  • Aufbau
  • Erschienen: Januar 2013
  • 2
  • Berlin: Aufbau, 2013, Seiten: 608, Originalsprache
Ein deutscher Sommer
Ein deutscher Sommer
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Christine Ammann
921001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2013

Als wir unsere mediale Unschuld verloren

Kein "deutscher Herbst", nein, ein deutscher Sommer. Auch keine "bleierne Zeit" – es sind hysterisch aufgeladene Tage vor 25 Jahren, von denen der Autor Peter Henning in seinem neuesten Roman erzählt.

Es war heiß an jenen Augusttagen im Jahr 1988 der Noch-BRD – die Mauer fiel erst ein gutes Jahr später –, als zwei Schwerkriminelle eine Bank in Gladbeck überfielen, mit ihren Geiseln quer durch die Republik fuhren, die Polizei vorführten und einem Journalisten-Tross vor laufender Kamera Interviews gaben. Am Ende waren zwei Geiseln und ein Polizist tot. 54 Stunden, die sich ins kollektive Bewusstsein der Deutschen eingebrannt haben.

Damals musste man sich zum Telefonieren noch in eine Telefonzelle begeben, das Internet war Zukunftsmusik und das Privatfernsehen steckte in den Kinderschuhen, "Tutti frutti" sollte die deutsche Nation erst zwei Jahre später erregen. Die Deutschen lebten – noch – in einer Welt der medialen Unschuld.

Peter Henning, 1959 in Hanau geboren, erzählt in Ein deutscher Sommer vom Gladbecker Geiseldrama als medialem Sündenfall. Die Gefahr, als Autor selbst zum medialen Trittbrettfahrer zu werden, umgeht er geschickt. Ähnlich wie Ingo Schulze in "Simple Storys" nutzt er die dramatische Entwicklung als Folie, vor der die Personen des 600 Seiten starken Romans agieren, als eine im Geheimen wirkende Schwungkraft, die die Figuren zunächst in ihren Bann zieht, um sie schließlich unter Einwirkung erheblicher Fliehkräfte wieder zu entlassen. Und dabei schaut der Leser aus nächster Nähe zu.

Der Autor präsentiert uns wie in einem Close-up sieben Figuren – von denen vier frei erfunden sind –, zeigt uns wie unter einer Lupe ihre Lebensläufe, ihre Schicksale, ihr ganz persönliches Drama dieser Tage und wie die Tage der medialen Hysterie ihr Leben verändert haben. Da sind Chris, auch Eva genannt, die mit ihrem Taxi den gekaperten Bus der Geiselnehmer rammt, Adam, der den Bus fährt, Peter Ahrens, der Fotojournalist, der zwischen Geiselnehmern und Polizei verhandelt, Kirchner, der frustrierte SEK-Mann, der hätte zugreifen können, aber von Vorgesetzten ausgebremst wurde. Oder Thomas Bertram. Der RTL-Journalist und überforderte Vater eines Frühchens, das um sein Leben kämpft, wird vom Sender auf die Kölner Schildergasse geschickt, wo Schaulustige und Journalisten den Wagen der Entführer, in dem auch die beiden Geiseln Ines Voitle und Silke Bischoff sitzen, belagern. Und dann ist da noch die Kitschromanautorin Brigitte, deren Mann Martin als Kriegsreporter im Libanon umkam. Die Vielzahl der Figuren mag ähnlich wie in einem russischen Roman manchmal verwirren, aber ihre prall gefüllten Lebensgeschichten, die sich zu einem Zeitgemälde der ausgehenden achtziger Jahre fügen, machen dies mehr als wieder wett.

Aber Ein deutscher Sommer ist noch mehr als ein Roman über eine Geiselnahme mit tödlichem Ausgang, ihre mediale Wirkung und ihre gesellschaftlichen Folgen. Peter Hennings neues Buch streift immer wieder die großen Themen der Literatur: Geburt und Tod, Schicksal und Gott, Wahrheit und Lüge, Liebe und (Sehn)-Sucht.

Der Autor, der bereits 2009 mit Die Ängstlichen einen umfangreichen Roman und Bestseller vorlegte, hat mit Ein deutscher Sommer erneut einen intelligent konstruierten Roman geschrieben, der mit Filmtechniken – wie in "Short Cuts" von Robert Altmann oder "Babel" von Alejandro González Iñárritu – arbeitet: Langsame und schnelle Schnittfolgen machen aus dem Panorama der Figuren, die im näheren und ferneren Bannkreis des Geiseldramas ihr Leben leben, eine ungemein spannende und temporeiche Geschichte.

Henning, der selber als Journalist arbeitete, schildert die Ereignisse der 54 Stunden in einer klaren, präzisen und pointierten Sprache, eindringlich und mit großer Beobachtungsgabe. Ein deutscher Sommer erinnert an Jonathan Franzens Die Korrekturen, an Dashiell Hammett oder Raymond Chandler. Realistisch und plastisch springen die Figuren dem Leser förmlich entgegen. Und für sein Personal findet Henning immer wieder intensive, unverbrauchte Bilder. So heißt es über Peter Ahrens, der zwischen Polizei und den Geiselnehmern Rösner und Degowski vermittelt:

 

"Alles um ihn herum schien sich zu verlangsamen, ineinanderzufließen wie die Wasserfarben auf den Zeichenblättern seiner Tochter Jasmin, die sie tags zuvor zum Trocknen hinaus auf die sonnige Terrasse getragen und dabei unbemerkt so schräg gehalten hatte, dass sich die Linien auf dem Papier plötzlich in Bewegung setzten, sich vermischten und in kleine, wie in Zeitlupe rinnende bunte Bäche verwandelten."

 

Und immer wieder geht es in Ein deutscher Sommer um die Frage, wo inmitten des medialen Hypes die Wahrheit über das "Geiseldrama von Gladbeck" ihren Platz hat.

 

Was war eigentlich die Wahrheit? Hier? Jetzt, in diesen Minuten? Dass zwei durchgedrehte Verbrecher einem Jungen in den Kopf schossen, weil sie mit ihren Nerven am Ende waren? Dass die Polizei sie mit ihrem Fehlverhalten dazu trieb?

 

Peter Henning, der heute in Köln lebt, hat für Ein deutscher Sommer umfassend recherchiert, stieß dabei allerdings, wie er sagt, auf zahlreiche Hindernisse und eine Mauer des Schweigens. Der Kölner "Express" habe die Artikel aus den betreffenden Tagen gesperrt, die SEK Köln ihre Akten unter Verschluss gehalten, ein Gespräch mit dem in Bochum einsitzenden Rösner hätten die Behörden verhindert. Ob es tatsächlich Rösner war, der, nach dem polizeilichen Zugriff, den tödlichen Schuss auf die Geisel Silke Bischoff abgab, bleibe letztendlich im Dunkeln.

Und wo verläuft überhaupt die Grenze zwischen Realität und Fiktion, welche Bedeutung kommt beiden bei der Wahrheitsfindung zu? Diese Frage zieht sich durch den Roman. Als der von Degowski erschossene 15-jährige Emanuele de Giorgi sterbend am Boden liegt, rücken ihn die Journalisten für die Fernsehkameras zurecht:

 

In das Zischeln der Kameras und das Surren der Power-Winder hinein hörte er einen Kollegen rufen:
"Dreht ihn um, dreht ihn auf die Seite, damit wir ihn besser drauf kriegen."
Und ein anderer rief: "Wie gut, dass ich das extreme Weitwinkel drauf habe."
Und dann sah er, wie ein Kollege den Kopf des Jungen anhob und ins Licht der Scheinwerfer drehte, damit man ihn besser fotografieren konnte.

 

Mit Ein deutscher Sommer ist Peter Henning ein packender, vielschichtiger Roman gelungen, lebensprall und dicht – der einen Stachel ins Fleisch der deutschen (Medien)-Geschichte treibt.

Ein deutscher Sommer

Peter Henning, Aufbau

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