Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

  • Frankfurt am Main: S. Fischer, 2009, Seiten: 544, Übersetzt: Hans Peter Hoffmann, Karin Betz, Brigitte Höhenriede
  • Frankfurt am Main: S. Fischer, 2011, Seiten: 544, Übersetzt: Hans Peter Hoffmann, Karin Betz, Brigitte Höhenriede
  • New York: Pantheon Books, 2008, Titel: 'The Corpse Walker'
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
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Sebastian Riemann
801001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2013

Ein unverblümter Zugang zum Leben in China

Diejenigen Menschen, die sich am Rande einer Gesellschaft tummeln, haben meist ein erzählenswertes Leben, da sie nennenswert von dem abweichen, was als Alltäglich und Normal gilt. Ein Ensemble solcher Personen spiegelt nun nicht die Wirklichkeit der Massen wieder, sondern zeigt vielmehr Widersprüche, Ungerechtigkeiten und Abgründe in einer Gesellschaft auf, die sonst auf ihr reibungsloses Funktionieren konzentriert ist. Gleichzeitig weisen diese illustren Charaktere alternative Lebensentwürfe auf und regen immer wieder zum reflektieren an. Mit seiner Interviewsammlung zeigt Liao Yiwu Seiten seiner Heimat auf, die vielfach mit dem Selbstbild im heutigen China kollidieren und einen Einblick in die reichhaltige Kultur der Menschen geben. Politische Umwälzungen in der Vergangenheit bilden hierbei ein Thema von außergewöhnlicher Wichtigkeit. Viele der Interviewpartner berichten von vergangenen Repressalien, von öffentlicher Diskriminierung und nicht selten von Misshandlungen. Künstler, die von der Praxis alter Traditionen lebten, sahen sich Anfeindungen von modernen Kommunisten ausgesetzt, die China in eine neue glorreiche Zukunft führen wollten und auch bereit waren brutal mit allen "alten Menschen" zu verfahren. Die Trennlinie zwischen alt und neu taucht immer wieder in den Gesprächen auf und verweist auf eine Gesellschaft, die sich seit Jahrzehnten großen Wandlungen ausgesetzt sieht und immer weiter nach vorne will. Dass hierbei einige Personen nicht den Schritt mitmachen wollen oder können führt zu traurigen, interessanten, mitunter sogar humorvollen Momenten in den Begegnungen mit dem Interviewer.

Mit viel Geschick führt Liao Yiwu die Gespräche und vermag es sein Gegenüber derart zum Erzählen zu verleiten, dass man schnell vergessen kann, dass es sich hier um Interviews handelt und nicht in Dialogform vorgebrachte Fiktion. Packend und unterhaltsam reden die Jungen und Alten über ihr Leben und vermögen den Leser immer wieder zu überraschen. Das Buch lässt sich schwerlich in eine Kategorie zwingen, da die enthaltenen 29 Interviews so unterschiedlich sind, die Themen so vielfältig und die Charaktere so bunt. Ein kleiner Einblick vermag behilflich sein die Einzigartigkeit dieses Werkes zu verstehen.

"Der Trauermusiker" ist ein alter Mann, der die Suona – ein traditionelles Holzblasinstrument – spielt und damit seinen Lebensunterhalt bestreitet. Er erzählt von der Bedeutung seiner Kunst in vergangenen Zeiten, beklagt sich über den kulturellen Wandel in der chinesischen Gesellschaft, der seine Arbeit immer mehr an den Rand der Bedeutungslosigkeit drängt. Früher war die Suona-Musik wichtiger Bestandteil zahlreicher Veranstaltungen – daran erinnert sich auch Liao Yiwu – aber in den letzten Jahrzehnten wurde die Nachfrage immer geringer, da die Musik als Überbleibsel einer unschicklichen Zeit gilt. Der Leser taucht hier nicht nur in eine gute Portion Melancholie, sondern auch in Traditionen vor der Kulturrevolution ein und kann an der Figur des Trauermusikers Auswirkungen eines grundlegenden Identitätswandels erkennen, der diejenigen zurücklässt, die nicht Schritt halten mit der schnellen Fahrt in Chinas Zukunft.

In der Unterhaltung mit den Totenrufern vergisst man schnell, dass es sich um ein Interview handelt, vielmehr fühlt man sich augenblicklich in eine mystische Erzählung versetzt, deren Darstellung älterer Kultur der Landbevölkerung nur sporadisch und unmerklich durch die Einwürfe Liaos unterbrochen wird. Die Totenrufer brachten Verstorbene über große Distanz in ihre Heimat zurück, damit sie dort begraben werden können. Hierzu verkleideten sich die engagierten Totenrufer und zogen in gespenstischer Manier übers Land, wobei sie stets viel Ehrfurcht in den Menschen hervorriefen. Der kulturelle Wandel im Land brandmarkte ihre Tätigkeit jedoch als abergläubisches Gewerbe und sie sahen sich während einer Reise dem Widerstand der Bevölkerung und Polizei ausgesetzt, da sie als Feinde des Volkes und Fortschritts angesehen wurden. Ähnlich wie der Trauermusiker bietet dieses Gespräch Einblicke in den kulturellen Reichtum und die Auswirkungen der politischen Veränderungen in Chinas Geschichte.

Die Begegnung mit Fräulein Hallo wirft den Leser hin zum anderen Ende des Alt-Jung-Spektrums. Während Liao Yiwu oft Personen befragt, die älter sind als er, so wird er nun von Fräulein Hallo angesprochen und findet sich in der Rolle des "alten Menschen", der nicht in der Moderne angekommen ist. Das aufgedrehte, lebenshungrige Mädchen spricht den Poeten in einer Bar an, glaubt einen geilen, alten Bock in ihm zu sehen und erzählt von ihrem Leben mit einer erstaunlichen Leichtigkeit. Sie wurde vom Fernsehen erzogen, nicht von Eltern und Traditionen. Sex, Drogen, Musik und Spaß sind ihr Leben, welches sie aufgrund ihrer Schönheit genießen kann, denn viele Männer bezahlen sie, um mit ihr ein paar Stunden in einer Bar zu verbringen. Fräulein Hallo ist das neue China, das sich in vielerlei Hinsicht dem Westen zugewandt, alte Bräuche und Werte hinter sich gelassen hat; sie ist ein "neuer Mensch", der Liao Yiwu hin und wieder die Souveränität raubt und das Gespräch zu einer unerwarteten Bereicherung des Buches macht.

Letztlich darf natürlich eine Unterhaltung mit einer Familie eines Opfers des 4. Juni nicht fehlen. Das Ereignis spielt eine derart große Rolle im Schaffen des Poeten, dass man dieses Interview schon ahnen konnte. Liao besucht eine Familie, deren Sohn auf dem Platz des himmlischen Friedens ums Leben kam. Der Vater erzählt vom Sohn als der Hoffnung der gesamten Familie, er war ein sehr guter Schüler, der für die Universität in Peking zugelassen wurde und dem wohl eine blühende Zukunft bevorstand. Nach seinem Tod zerbricht jedoch die Familie, da jenes Ereignis in Peking wie ein Erdbeben in die Grundfesten der Eltern und Geschwister eindringt und für viel Leiden und Scheitern sorgt. Dieses Interview ist so beeindruckend aufgrund seiner menschlichen Nähe und weil Liao es nicht in eine politische Richtung lenkt. Die damaligen Forderungen der Studenten werden nicht thematisiert, aber es wird gezeigt wie die Regierung ihr eigenes Handeln verschleiern und sich der Schuld entziehen will.

Liao Yiwu ist chinesischer Dichter und musste am eigenen Leib Repressionen seiner Regierung erfahren. Aufgrund seiner Bemühungen zur Aufarbeitung der Ereignisse auf dem Platz des himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 wurde er für vier Jahre inhaftiert. Seine Person und Arbeiten sind aus dem kulturellen Leben Chinas verdrängt, er ist jedoch einem größeren, ausländischen Publikum vertraut, welches durch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" auf ihn aufmerksam wurde. Liao Yiwu erhielt im Jahre 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und wurde somit für seine langjährige politische Aufklärungsarbeit geehrt. Als im selben Jahr der Nobelpreis für Literatur an Mo Yan verliehen wurde kam es zum Streit, Liao Yiwu war "fassungslos", da ein "Staatsdichter" vom Westen geehrt wurde. Er warf Mo Yan unter Anderem vor, sich der harten Wirklichkeit zu entziehen und seine Kunst als Flucht zu missbrauchen.

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Liao Yiwu, S. Fischer

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

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