Berge Meere und Giganten
- S. Fischer
- Erschienen: Januar 1924
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- Berlin: S. Fischer, 1924, Seiten: 589, Originalsprache
- Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2013, Seiten: 656, Originalsprache, Bemerkung: Mit einem Nachwort von Gabriele Sander
Ein Werk voll epischer Wucht
Dass Alfred Döblin der Autor des modernen Großstadtromans Berlin Alexanderplatz ist, wissen wohl die meisten. Dass Alfred Döblin aber zahllose weitere Erzählungen, Versepen und Romane verfasst hat, wissen vermutlich nur wenige. Döblins Roman Berge Meere und Giganten erschien erstmals 1924, also nur fünf Jahre, bevor Berlin Alexanderplatz Furore machte. Nun wurde der sechste Band der insgesamt 24 (!) Bände umfassenden Döblin Gesamtausgabe bei Fischer neu aufgelegt und durch ein informatives Nachwort von Gabriele Sander ergänzt.
"Was wird aus dem Menschen, wenn er so weiterlebt?"
Das war die Prämisse, von der Döblin bei der Arbeit an seinem beinah 650 Seiten starken Werk ausging. Als Antwort schuf er eine Anti-Utopie von überwältigender Bildgewalt, die an Aktualität nichts eingebüßt hat: Megastädte, technologische Machteliten, Bevölkerungsexplosion, Migrationsströme, Gentechnik, Verteilungskriege, Versklavung der Massen.
Alfred Döblin hat Berge Meere und Giganten in einem wahren Schaffensfuror niedergeschrieben. Seine Berliner Arztpraxis ließ er in dieser Zeit geschlossen, und während des Schreibens führte er gleichzeitig umfangreiche Recherchen durch: etwa zu technischen Themen, zu Landschaften, afrikanischen Völkern: Döblin ließ in Berge Meere und Giganten das Wissen seiner Zeit einfließen und verlieh seinem Roman damit eine außerordentlich Detailgenauigkeit und Anschaulichkeit.
Der damals 46-Jährige Döblin lässt seine Geschichte direkt nach dem ersten Weltkrieg beginnen, unter dessen Eindruck Berge Meere und Giganten wohl auch entstand:
"Es lebte niemand mehr von denen, die den Krieg überstanden hatten, den man den Weltkrieg nannte."
Döblin, der den ersten Weltkrieg als Lazarettarzt miterlebte, spinnt die Geschichte unseres Planeten bis ins 27. Jahrhundert fort. Während er den Leser über die ersten Jahrhunderte seines Romans eher im Stil eines antiken Geschichtsschreibers in groben Zügen informiert, verlangsamt er den Zeitraffer im Verlauf der Jahrhunderte, um schließlich die dramatischen Geschehnisse im 27. Jahrhundert vor dem Leser auszubreiten: In Berge Meere und Giganten lebt die Menschheit in riesigen Städten, die von Wissenseliten beherrscht werden. Nahrungsmittel werden nur noch künstlich hergestellt, Bauern sind überflüssig geworden. Nach dem großen "uralischen Krieg", bei dem sich die westlichen Mächte der Achse London-New York und die asiatischen Mächte bekämpfen, spitzt sich die Lage der Menschheit zu. An den Rändern fransen die Machtgebiete aus. Revolutionäre Gruppen lassen sich kaum mehr beherrschen. Man braucht neuen Siedlungsraum, um "missliebige Elemente" loszuwerden. Man beschließt, Grönland zu enteisen. Das technologische Megaprojekt läuft allerdings vollkommen aus dem Ruder, als riesige Untiere aus den Tiefen der Meere aufsteigen. Döblin schildert, was Frank Schätzing später in Der Schwarm aufgreifen sollte. Die Rache der Natur an der sich selbst überschätzenden Menschheit:
"An der Spitze des Geschwaders wurde einmal das Röhren und Schnauben ungewöhnlich heftig. Sechs Schiffe fuhren darauf zu. ... Dort stieg Wasser auf, jedoch nicht senkrecht wie aus Spritzlöchern der Wale. Sondern was sich bewegte, spie schwallartig waagerecht Ladungen Wasser von sich. Die Boote rannten gegen die sprudelnde Wassermasse. Da waren sie schon gekentert. Aus dem Meer aber wand sich der Rücken eines braungrünen schuppenglänzenden Untiers, eines Reptils mit langem Schnabel, seitwärts gestellten blicklosen Vogelaugen, das an seinen dünnen Vorderbeinen eine lappige schwere Haut schleppte."
Döblins Sprache ist von geradezu homerischer Wucht, wie schon ein zeitgenössischer Rezensent bemerkte. So heißt es im Roman im Anschluss an den ersten Satz:
"In die Gräber gestürzt waren die jungen Männer, die aus den Schlachten zurückkehrten, die Häuser übernahmen, welche die Toten hinterlassen hatten, in ihren Wagen fuhren, in ihren Ämtern dienten, den Sieg ausnutzten, die Niederlage überstanden. In die Gräber gestürzt die jungen Mädchen, die so schlank und blank über die Straßen gingen, als wäre nie ein Krieg zwischen Männern in Europa gewesen. In die Gräber gestürzt die Kinder dieser Männer und Frauen ..."
Döblins visionäre Zukunftsbilder sind überaus phantastisch und machen auch vor großen Grausamkeiten nicht halt, die an die apokalyptischen Gemälde eines Hieronymus Bosch erinnern.
"Wen die Fasern des Gewebes berührten, was von dem dampfenden blasenwerfenden Blut bespritzt wurde, veränderte sich im Augenblick. Schafherden leckten übergischt an dem Blut. Die Zunge quoll ihnen über die Zähne weg, fiel auf das Gras, sich verbreiternd verdeckend. Die Tiere standen da, zerrten an den fürchterlichen Organen, an denen sie sofort erstickten. Andere sogen glotzend blökend an den roten Fleischmassen, die ihnen unaufhaltsam aus den Mäulern wuchsen."
Der Autor plante außerdem, Berge Meere und Giganten zu verfilmen. Es wäre mit Sicherheit ein imposanter Film geworden, dessen Phantasiewelten denen Tolkiens in nichts nachgestanden hätten. Das grausame Kampfgetümmel in "Berge Meere und Giganten" weist, sicherlich nicht zufällig, Ähnlichkeiten mit zeitgenössischen Filmszenen, etwa der Nibelungenschlacht in Fritz Langs "Die Nibelungen" – ebenfalls von 1924 – auf. Wie sich auch vieles aus Fritz Langs Film "Metropolis", der kurz nach Berge Meere und Giganten erschien, bei Döblin wiederfindet: Die Megastadt, die technologische Versklavung der Menschen, die Frau als böse Verführerin.
Das Werk von Alfred Döblin galt den Nazis als entartete Kunst. Bereits 1933 verließ Döblin, der einer jüdischen Familie entstammte, Deutschland Richtung Frankreich. Später floh er in die USA und arbeitete in Hollywood. Als einer der ersten Exilautoren kehrte er 1945 nach Europa zurück und lebte bis zu seinem Tod, im Jahre 1957, in Frankreich und Deutschland. Er konnte jedoch nicht mehr an seine früheren Erfolge anknüpfen, man zählte ihn sogar zu den "vergessenen Künstlern". Erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der Autor Alfred Döblin wiederentdeckt. In diese Zeit fällt auch die Neuauflage von Berge Meere und Giganten, das seit den dreißiger Jahren vergriffen war. Und 1978 publizierte Günther Grass in "Der Zeit" einen ausführlichen Reisebericht, in dem er seine Beobachtungen in Asien mit Döblins "verstiegenem Werk" konfrontierte.
Aber auch heute noch gilt es Berge Meere und Giganten wiederzuentdecken: ein eklektisches Werk von beklemmender Aktualität, das sich aus mythologischen, biblischen, ethnologischen und literarischen Quellen speist und in dem sich Sprachexperimente, idyllische Lyrik, futuristische Phantasien und expressionistische Ausdruckskraft zu einem Werk voll epischer Wucht verbinden, die so leicht nicht ihresgleichen findet.
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