Markus Mustermanns Nullachtfünfzehn-Visage begeistert mehr als Goyas Fratzen
Offene Enden sind zuweilen ein Befreiungsschlag. Nicht aber dann, wenn der Protagonist sich nicht befreit sieht. Wenn er weiter spinnt, mutmaßt, sich in Bilder hineinversetzt, die so vielleicht gar nicht zu deuten sind. Wenn keine Chance besteht, aus Bestehendem ein positives Ende zu basteln. Sondern alles ganz anders ist. Nur wie? Bedrückend ist eines der Wörter, mit denen der neue Roman von Andreas Schäfer Gesichter überschrieben werden kann. Und bedrückend dicht. Zeit zum Luft holen lässt der in Hamburg geborene Autor kaum. Er hetzt durch das wirre und verwirrende Gedankenchaos eines Arztes, dessen Lieblingsbeschäftigung es zu sein scheint, sich über Gesichter Gedanken zu machen.
Gabor Lorenz, Neurologe, verheiratet, Vater von Malte und Nele, macht Urlaub auf einer griechischen Insel. Während der Rückreise beobachtet der Arzt am Hafen von Patras einen Mann, der auf einen Lastwagen springt und sich versteckt. Ein Flüchtling wohl. Lorenz will helfen. Schmeißt eine Tüte mit Lebensmitteln auf das geparkte Fahrzeug und vergisst zunächst, dass eine Handvoll Postkarten in der Tüte steckt, die er vorgeschrieben hat, um sie in unregelmäßigen Abständen seiner Frau zu schicken. Den Urlaub verlängernd, um Gedanken zurück zu holen. Einzufrieren. Eine schöne Idee.
Die Postkarten waren mit der Berliner Adresse der Familie versehen. Eine Woche später erreicht die erste Urlaubserinnerung den Berliner Arzt. Abgestempelt in Modena. München folgt. Die fünfte und letzte Karte liegt im Postfach seines Berliner Büros. Ohne Briefmarke. Ohne Stempel.
Zu diesem Zeitpunkt allerdings hat Gabor Lorenz bereits eine Odyssee hinter sich, eine, die eigentlich jeden Menschen zu Fall bringen müsste. Und bringen wird.
Gabor geht der Mann auf dem Lkw nicht mehr aus dem Kopf. Die erste Karte die ihn erreicht verwirrt ihn. Die zweite noch viel mehr. Er sieht sich bedroht, seine Familie auch. Bekommt Panikattacken, ist nicht mehr in der Lage ruhig zu schlafen. Er sieht das Flüchtlingsgesicht überall und als schließlich noch seine pubertierende Tochter verschwindet, bricht Gabors Welt endgültig zusammen. Er befürchtet eine Entführung – nur stellt keiner eine Lösegeldvorderung. Die Geschichte klärt sich auf – und ist ganz anders.
Spannend ist Gabors Beschäftigung mit der so genannten Gesichtsblindheit. Er erforscht mit Hilfe eines Teams, warum es Menschen gibt, die nicht in der Lage sind, Gesichter wieder zu erkennen. Eine leichte Übung für gesunde Menschen. Innerhalb eines Bruchteils von Sekunden werden menschliche Züge erkannt, eingescannt, egal ob die Zeit sie hat abmagern oder verfetten lassen. Gabor macht Tests, zeigt Fotos von Prominenten:
"Hat nicht einmal Michael Jackson erkannt... Dann hatte er vielleicht Elvis identifiziert und das henkelohrige Affengesicht von Bush Junior ..."
Die Aussetzer des Erkennens begeistern ihn. Während seine Frau - ganz Geisteswissenschaftlerin - sich für die Gesichtsflächen Daumiers begeistert, für die Fratzen Goyas, sind seine Leidenschaft Passbilder von Markus Mustermann und die Fähigkeit, auch dieses gewollte, durchschnittliche Gesicht immer wieder zu erkennen.
Gabor stolpert über Ausdrücke. Gesichtsausdrücke. Er sieht in vielen Gesichtern das des Flüchtlings. Gesichter sind der rote Faden des Autors, was beim Buchtitel beginnt. Schäfer zieht eine Parallele, baut einen Spannungsbogen auf, den er bis zuletzt nicht aus der Hand gibt. Geschickt vermischt er das Arbeitsfeld des Arztes, sein medizinisches Wissen, mit der eigenen Blindheit des Protagonisten.
Ein wenig erinnert Andreas Schäfers Idee, eine Krankheit zur Grundlage der Geschichte zu machen, an den großartigen Roman Leben von David Wagner. Bei Wagner ist es die Leber. Der Leser erfährt viel über das so wichtige Organ und auch darüber, was geschehen kann, wenn es versagt. Bei Schäfer sind die Diagnosen weniger Lebensbedrohlich – aber nicht weniger vernichtend. Gabor dreht durch, verzweifelt und ist sich doch sicher, immer im Bilde zu sein. Anders als seine Patienten, die große Teile nicht sehen, nichts sehen wollen oder wirklich nicht sehen können.
Wer ist diese Person, die all die Karten für Gabors Frau verschickt? Erfahren wird es keiner. Schade und auch gut so.
Ein interessantes Buch. Eines auch das vielleicht unterstreichen möchte, dass es von Zeit zu Zeit hilft in den Spiegel zu schauen – schlicht – um sich selbst zu erkennen. Das nämlich hat Gabor Lorenz verpasst und darüber stolpert er schließlich ganz gewaltig. Auf die Nase fällt er nicht ganz. Viel allerdings fehlt nicht.
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