Auch die Vögel sind fort
- Unionsverlag
- Erschienen: Januar 1994
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- Zürich: Unionsverlag, 1994, Seiten: 127
- Zürich: Unionsverlag, 2013, Seiten: 130, Übersetzt: Cornelius Bischoff
- : Edition Orient, 1978, Titel: 'Kuşlar da Gitti', Originalsprache
Vögel des Glaubens und kleine Halunken
Hayri, Süleyman und Semih sind drei Straßenjungen, die im Herbst ihre Zelte am Strand von Florya am Rande Istanbuls aufschlagen, um mit Hilfe ihrer Netze alle möglichen Vögel zu fangen. Sie kommen in großen Scharen, sind klein, groß, laut , leise, grün, gelb, grau und über alle Maßen erschöpft vom Flug. Hilflos zappeln sie in den Fallen der Jungen, um kurz darauf in viel zu enge Käfige gesperrt zu werden. Auf Istanbuls Straßen und Plätzen erhalten die Menschen dann die Möglichkeit für eine geringe Summe einen oder mehrere Vögel zu erwerben. Mit einem Gebet bedacht entlässt man sie in den Himmel, auf dass sie an der Himmelspforte warten. So war es Tradition in Istanbul und so verdienten die drei Jungen ihr Geld, doch plötzlich hatten sich die Dinge geändert und niemand wollte mehr die armen, kleinen Vögel kaufen, sie erlösen und aufsteigen lassen. Die Stadt hat Glauben und Kultur verloren, beschweren sich die verzweifelten Jungen beim Erzähler.
Yaşar Kemal erzählt auf wunderbar unkomplizierte Art eine Geschichte von Barmherzigkeit, Tradition, Moderne, Wandel und Hoffnung, aber auch von Tierquälerei, Doppelmoral, Betrug und Verzweiflung. Seine Figuren scheinen auf den ersten Blick Schablonen von Emotionalität, Melancholie, Weisheit oder Verwegenheit, Vieles wirkt verklärt und unwirklich, doch schnell verliert jedes Element seine Oberflächlichkeit und entfaltet sich in einem bunten Gewirr aus Menschen und Vögeln. Der Ton der Geschichte ist betörend ohne dem Leser etwas verschleiern zu wollen, mitunter drängt sich der Verdacht auf die Erzählung driftet in den Märchenbereich, so intensiv leuchten die Farben der Vogelgefieder und so legendär geben sich die Biografien alter, geachteter Männer in den verruchten Vierteln Istanbuls, doch ohne Umschweife finden sie alle ihren Weg in die Erzählung der drei Straßenjungen und verwandeln sich in greifbare Elemente.
Yaşar Kemal (geboren 1923) gehört zu den literarischen Größen der Türkei, kann sich darüber hinaus aber auch in Deutschland großer Achtung und Anhängerschaft erfreuen. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sein Schaffen ist politisch geprägt, immer wieder prangert er Missstände in seiner Türkischen Heimat an. Mehrfach war er Repressalien von staatlicher Seite und Anfeindungen von konservativen Kräften ausgesetzt. Mit den Jahren häuften sich die internationalen und dann auch nationalen Preise für den Autor, den Höhepunkt bildete seine Nominierung für den Literaturnobelpreis im Jahre 1972. Weltweiten Ruhm erlangte er in den 50er Jahren mit seinem Buch "Memed mein Falke", welcher später von Sir Peter Ustinov verfilmt wurde.
In Auch die Vögel sind fort widmet sich der Autor dem Wandel der Stadt Istanbul, lässt die drei Straßenjungen immer verzweifelter durch die Viertel ziehen, die Hoffnung auf potentielle Kunden nicht aufgebend. Doch der wirtschaftlichen Entwicklung stehen sie hilflos gegenüber, sie müssen anerkennen, dass alte Kräfte untergehen und Profitgier die Herrschaft übernimmt:
"Als wären es Goldminen, hat in Istanbul der Sturm auf das Land begonnen. Für eine Handbreit Boden werden diese gerissenen Ungeheuer sich gegenseitig die Augen auskratzen, einander vergewaltigen, an die Kehle gehen und in Stücke reißen ... In den Straßen dort werden Menschen eitel flanieren, Geschöpfe, die nicht mehr wissen, was Menschsein bedeutet, ..."
Kemal ist ein großartiger Erzähler, der gerne auf die Moral von der Geschichte verzichtet und den Leser mit widersprüchlichen Gefühlen zurücklässt, ihn aufwühlt und zum Nachdenken anregt. Seine Art zu erzählen lässt schwere Themen ohne Mühe in den Geist des Lesers eindringen und dort für Begeisterung und Verwirrung sorgen. Ein gutes, unterhaltsames und inspirierendes Buch.
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