Die letzte Wahrheit
- HarperCollins
- Erschienen: Januar 2013
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- New York: HarperCollins, 2013, Titel: 'Reconstructing Amelia', Seiten: 388, Originalsprache
Manchmal nahm sie sich vor, nicht zu weinen
Als die alleinerziehende, ehrgeizige Anwältin Kate mitten aus einem Meeting heraus in die Schule gerufen wird, um ihre Tochter Amelia abzuholen, glaubt sie noch an einen Irrtum. Kurze Zeit später steht sie fassungslos vor der Leiche des Teenagers, der sich gemäß Polizei vom Dach des Schulgebäudes gestürzt hat. Kate ist fassungslos. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass ihre 15-jährige Tochter sich das Leben nehmen wollte. In ihrem Schmerz sucht die Anwältin nach Erklärungen für die Verzweiflungstat. Gerade, als sie sich damit abfindet, ihre Tochter nicht in allen Bereichen gekannt zu haben, bekommt sie eine anonyme SMS. Darin steht, dass Amelia nicht gesprungen ist. Zunächst glaubt Kate an einen schlechten Scherz. Dennoch klammert sie sich an diesen Strohhalm, der ihre Tochter zwar nicht wieder lebend machen, aber den Tod des Mädchens in ein anderes Licht rücken würde. Kate beginnt zu recherchieren und die letzten Wochen im Leben ihrer Tochter nachzuzeichnen. Dabei stößt sie nicht nur auf Ungereimtheiten, sondern auf ein Leben, von dem sie als Mutter nichts ahnte. Für Kate ist die Suche nach der Wahrheit letztlich auch eine Auseinandersetzung mit ihren eigenen, verdrängten Ängsten und Gefühlen.
Kimberly McCreight setzt ein schwieriges Thema brillant um. Die Verzweiflung von Kate ist ebenso greifbar, wie die schweren Zweifel, die die Mutter quälen. Die Leser bekommen den Prozess der Trauer unvermittelt mit und erleben auch, wie sich Kate langsam ganz der Aufgabe verschreibt, das Geheimnis um den Tod ihrer Tochter zu lösen. Dass sie sich dabei ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss und immer wieder auch mit ihren Fehlern konfrontiert wird, macht die Entwicklung glaubwürdig und sehr menschlich. Die Autorin verzichtet darauf, Kate zu einer starken Figur zu entwickeln, die das schreckliche Geheimnis dank ihrer Nervenstärke zu lüften vermag. Sie zeigt eine zutiefst verstörte Frau, die alles daran setzt, der vermeintlichen Wahrheit eine andere Wahrheit entgegen zu setzen, die besser verkraftbar scheint.
Interessant ist die Vorgehensweise der Autorin. Zunächst wählt sie die Perspektive der Mutter, die zur Schule eilt und sich dort der schrecklichen Wahrheit stellen muss, dass ihre Tochter in den Tod gesprungen ist. Sie macht die Gefühle sichtbar, die von einem Anflug von Ärger über die Störung über Selbstzweifel bezüglich Mutterqualitäten bis hin zur ungeschminkten und heftigen Trauer reichen. Kate löst sich in ihrem Schmerz auf und definiert sich neu – ein Prozess, der von den Lesern gut nachvollzogen werden kann. Doch ist es nicht die Mutter, die die Geschichte erzählt – und auch die Leser langsam begreifen lässt, was wirklich auf dem Dach passiert ist. Es ist die Tochter Amelia selber, die plötzlich als Erzählerin in Erscheinung tritt und über verschiedenste Kanäle den Schleier lüftet. Zum einen ist es der kurze Austausch mit dem virtuellen Freund Ben, der die Leser mit der Gedankenstruktur Amelias vertraut macht, zum anderen ist es die tagebuchartige Schilderung des Mädchens, das verzweifelt nach seiner eigenen Identität sucht. Längst ahnt Amelia, dass ihre Mutter ihr über ihren Vater nicht die Wahrheit erzählt hat. Im verzweifelten Wunsch, ihrer Herkunft ein Gesicht zu geben, lässt sich Amelia auf ein gefährliches Spiel ein.
Mit den Themenbereichen Suizid, verdrängte Gefühle, Selbstzweifel, Freundschaft - aber auch mit den abstrusen Methoden von Studentenverbindungen serviert die Autorin Kimberly McCreight einen höchst kompakten Roman, der immer wieder ein Umdenken verlangt und die Leser mehrmals mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontiert. Leider gelingt es der Autorin nicht ganz, den guten Ansatz bis zum Schluss weiter zu ziehen. Die fast schon obligate Liebesgeschichte, die in den Roman eingeflochten wird, nimmt der Geschichte viel von ihrer Tiefe und dem Tempo. Obwohl den Erwartungen der Leserschaft geschuldet, nimmt dieser Teil zu viel Platz ein und legt sich klebrig um die starken Bilder, die sonst geboten werden.
Die letzte Wahrheit ist ein vom Konzept her überzeugender und überraschend tiefgründiger Roman. Die angesprochenen Themen lohnen sich eine Auseinandersetzung und der Aufbau zeugt von hoher Professionalität. Wer den Roman jedoch als Thriller sieht, dürfte mit zu starken Emotionen konfrontiert werden.
Kimberly McCreight, HarperCollins
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