Im Stein
- S. Fischer
- Erschienen: Januar 2013
- 1
- Frankfurt: S. Fischer, 2013, Seiten: 560, Originalsprache
Kein Epos für die Ewigkeit
Clemens Meyer wird verbal gerupft für seinen neuesten Roman Im Stein. Nichts gibt es, was die Schar der Kritiker nicht wissen möchte. Warum der Titel "Im Stein" etwa, warum spielt sich alles im Rotlichtmilieu ab? Was will uns der Autor damit sagen? Und warum? Vielleicht muss der Roman Im Stein ganz anders gelesen werden. Vielleicht nicht in einem Rutsch durch, was zugegeben sehr mühsam und ermüdend ist - und vielleicht auch nicht als zusammenhängende Geschichte. Der viel gerühmte rote Faden nämlich, der fehlt. Auch ein Spannungsbogen lässt auf sich warten. Bis zum Schluss plätschert es dahin, bis zur verdammten Seite 558.
Ständig sorgen Bücher für Furore. Was gut ist: Aber selten stehen sie auf der Liste der fünf nominierten für den Deutschen Buchpreis. Clemens Meyer hat es mit seiner, wie sollte man sagen, umfangreichen Milieustudie geschafft. Einem Gesellschaftsroman über viele Jahrzehnte. Oder auch nur über eines, so genau lässt sich das nicht sagen. Vieles lässt sich nicht genau sagen: Nicht, um was es sich dreht, nicht, wer die eigentlichen Protagonisten sind und auch nicht, ob die Huren letztendlich vielleicht sogar Schaden davon tragen, dass ein Clemens Meyer schreibend durch ihr Leben rauscht.
Zurück zum Anfang. Zum Beginn eines langen, viel zu langen Romans. Meyer hätte die Hälfte des Buches einsparen können, hätte er auf diese ewigen drei Punkte verzichtet. Auf die, die ein Weiterkommen verhindern, oder den Leser animieren sollen, selbst das Gehirn zu benutzen. Eine Möglichkeit. Eine weitere ist, Tatsachen zu wiederholen. Füllt Seiten und trainiert das Erinnerungsvermögen. Immerhin!
Da ist als Arnold "Arnie" Kraushaar. Kraushaar macht in Immobilien. Er vermietet Räumlichkeiten an Prostituierte. Alles ganz legal, sauber, wie er sagt. Seinen Mädchen – nein, er ist kein Zuhälter – geht es gut. Wie gesagt, er kassiert nur für das Vermieten der Wohnungen. Das er dabei selbst über so manche Frau gehuscht ist, steht fast außer Frage. Kraushaar weiß, dass das Geschäft im Milieu ein schwieriges ist, deshalb studiert er, weil ein Studium auch in seinen Kreisen nicht schadet. Schon gar nicht, wenn man - wie er - ein kleines Imperium leitet. Steuerrecht, Marktanalysen, Unternehmensstrategien. Alles seins. Erst die Theorie. Dann die Praxis.
Kraushaar zumindest ist nicht unsympathisch – nur der Kreis, in dem er sich bewegt und seine Gedanken zuweilen. Die gibt er unverblümt wieder:
"Aktie Fick steht immer oben."
Skurrile Typen tauchen auf, kommen und gehen, einer liegt schließlich mit sauber abgetrenntem Bein und zwei Frauen tot im Moor. Kommissar Schimanski soll für Aufklärung sorgen. Schimanski wird er nur genannt – von seiner Stammnutte. Die dick ist, weich, aber er mag sie irgendwie.
Frauen kommen zu Wort. Viele Frauen. Prostituierte zumeist, auch solche, die sich formieren, für bessere Rechte kämpfen und für Anerkennung. Ganz schlimm wird es, wenn junge Mädchen reden. Wie alt sie tatsächlich sind, lässt Meyer aus. Teenager, noch nicht volljährig zumindest. Sie lügen sich alt und versuchen schnell ans große Geld zu kommen. Oder schaffen an für Zuhälter.
"Ich schlafe meistens im Sitzen, wenn das geht. Im Sessel oder so. Ich will nie wieder liegen"
lässt Meyer eines der Mädchen unter der Kapitelüberschrift "Der Kolumbusfalter" sagen. Ein Satz ohne Aussage - zunächst. Wer jedoch den Beginn des Kapitel kennt, Mädchen kennenlernt, die naturgemäß lieber Comics lesen als auf den Strich zu gehen, dem wird übel bei Sätzen wie diesen.
Der Autor macht auch nicht halt davor, über Sex mit Schwangeren zu sinnieren. Auch auf ihnen wird "abgespritzt", was Kraushaar allerdings nicht leiden kann, ebenso wenig hält er es aus, wenn schwangere Frauen rauchen. Die will er nicht in seinen Liebesnestern. Aber sonst? Sonst ist alles erlaubt und Meyer haut den Lesern unzählige Abkürzungen dubioser Sexpraktiken um die Ohren.
Der Fairness halber muss aber eingestanden werden, dass der Leipziger Autor ein feiner Beobachter ist. Und ein Sammler. Immer wieder fließen Zitate ein - aus Liedtexten etwa - zerlegt er Zusammenhänge in Einzelteile, in einer Sprache, die es Spaß macht zu lesen. Wirft Vermutungen ein, die mit noch lebenden Personen durchaus in Verbindung zu bringen sind:
"Das sind Geschäftsleute, bescheuerte Vorurteile, da kannste genauso den großen A von der Bank fragen."
Meyer siedelt seinen Roman Anfang der Neunziger und den frühen Nullerjahren an. Nach dem Fall der Mauer wird das hart umkämpfte Geschäft der Prostitution, der Sexarbeiterinnen wie Meyer schreibt, zwischen Ost und West neu aufgeteilt. Vielen Frauen aus osteuropäischen Ländern überqueren die Grenzen, lassen sich in den neuen Bundesländern nieder. Mischen das Geschäft auf, ein Geschäft, das schon vorher kein aalglattes war. Aus dem Westen kommen schließlich die Ideen. Da mischen renommiertet Bordellbetreiber, Geldeintreiber und Getriebene mit. Wollen verdienen, nehmen Helmuts Kohl Aufruf nach blühenden Landschaften für bare Münze. Skurril muten die Kreise an. Undurchsichtig. Spannung allerdings vermag nicht entstehen. Nur ekel zuweilen.
Bereits 2006 hat Meyer mit seinem Werk Als wir träumten für Furore gesorgt. Gefeiert wurde der gebürtige Leipziger, weil er ein Milieu beschrieben hat, ohne dabei dem Voyeurismus zu frönen. Wie auch immer das gehen soll. Und wieder wird er gefeiert, von der Jury des Deutschen Buchpreises. Er hat es geschafft, als einer von fünf Autoren auf die Shortlist zu kommen. Weil Meyer einen vielstimmigen Chor komponiert hat, und zwar über die dunkle Seite unserer Gegenwart. Der Roman über den "rand"- gesellschaftlichen Kontext der Rotlichtszene nimmt uns mit auf eine Reise in die Nacht, auch als Abbild des Kapitalismus im Wandel. Brutal realistisch, surreal, anrührend, phantastisch sind die Mittel mit denen uns Clemens Meyer diese Welt zeigt, und er spart nichts aus bis hin zur Kinderprostitution. Dabei wird der Text nie voyeuristisch, aber er ist so eindringlich und genau, wie wir es vielleicht auch nicht wissen wollten.
Nicht wissen wollen vielleicht. Aber was noch besser ist, nicht wissen müssen!
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