Balco Atlantico

  • Zürich: Secession Verlag für Literatur, 2013, Seiten: 174, Übersetzt: Christian Ruzicska und Paul Sourzac
  • Arles: Actes Sud, 2008, Originalsprache
Balco Atlantico
Balco Atlantico
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Christian Brockhaus
901001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2013

Allein in der Fremde

 

"Ich empfinde vielleicht eine schreckliche Sehnsucht nach Dingen, die nicht existieren. Aber ich will diese Sehnsucht nicht verlieren."

 

Scheinbar schwerelose Worte sickern auf unbequeme Weise in das eigene Bewusstsein und machen im Verlauf des neuesten Romans von Jérôme Ferrari Balco Atlantico, auf verborgene, eigene Sehnsüchte und Ängste aufmerksam, welche jeder Mensch tief in seinem Innersten birgt.

Da ist Théodore Moracchini: Ein anerkannter und promovierter Ethnologe, welcher sich seiner Erinnerungen nicht mehr erinnern kann und Buch führen muss, um Realität und Traum zu unterscheiden. Häufig erscheint ihm im Hause seines Vaters der Geist des verstorbenen Generals Gianfranco die Lanfranchi, mit dem er rege Konversation betreibt, sich aber nicht sicher ist, ob es nur eine weitere Gemeinheit seiner Psyche ist, oder aber eine wahrhaftige Erscheinung. Im Nachgang wird ihm klar, dass er viele Inhalte seiner hochgelobten Schriften schlicht und einfach frei erfunden hat, und diese nicht den Tatsachen entsprechen. "Gedächtniswucher" nennt Ferrari diesen trügerischen Zug seines Intellekts, und es macht ein beklemmendes Gefühl davon zu erfahren.

Ferrari schreibt von der heiligen, unantastbaren Liebe zwischen Virginie Susini und Stéphane Campana. Einem allein schon das Alter betreffend ungleichen Paar. Er ist intellektueller Anführer einer nationalistischen Studentenschaft, sie ist die naive Tochter der alleinerziehenden Barbesitzerin Marie-Angèle. Hingebungsvoll und mit blindem Vertrauen lässt sich Virginie auf das ein, was Stéphane von ihr verlangt. Sie deutet ihre eigene Unerfahrenheit und Enttäuschung als Zeichen einer überirdischen Liebe zwischen Stéphane und sich selbst. Für Campana ist Virginie Mittel zum Zweck, um sein in der Vergangenheit durch Abweisung stark in Mitleidenschaft gezogenes Selbstwertgefühl zu sanieren. Fast schon beschämt verfolgt der Leser den immer wiederkehrenden intimen Ritus der beiden, bei dem von Beginn an sicher ist, dass dieser kein gutes Ende nehmen kann.

Hayet und ihr Bruder Khaled immigrieren illegal aus Algerien nach Korsika, um dort ein besseres Leben zu führen. Auch ihre Ängste und Hoffnungen werden von Ferrari gekonnt skizziert und nachfühlbar in die Geschichte verwebt. Hayet findet Anstellung in der Bar von Marie-Angèle in Corte, während ihr Bruder Khaled in einer anderen Stadt als Tellerwäscher arbeitet und mit dem Verkauf von marokkanischem Marihuana versucht, das neue Leben zu finanzieren. Die sehnsüchtige Erinnerung an das Zuhause in Algerien, an die Spaziergänge auf dem Balco Atlantico und die Angst, in dem neuen Land unter fremden Menschen um seine Existenz bangen zu müssen, ist fast greifbar. Und auch hier reiht sich das Schicksal von Hayet und Khaled in dieses dunkle Pochen hinter den Geschichten ein, welcher wie ein gemeinsamer Pulsschlag die Menschen in Balco Atlantico miteinander vereint.

Während der Leser die Menschen in der kleinen Bar in Corte kennenlernt und ein Stück begleitet, reflektiert er sich immer wieder unwillkürlich selbst. Wie viel von den Geschichten, Gefühlen, Ängsten stecken nicht auch verborgen in jedem Menschen? Wie viel Zweifel und unerfüllte Hoffnung liegt da irgendwo am Grund jeder Seele? Ist eine Erinnerung an die Liebe, an Scham und an Schmerz auch nach langer Zeit noch immer dieselbe? Ferrari belehrt uns hier eines Besseren. Geschickt spiegelt er die blinden Flecken des Lebens seiner Figuren auf den Leser wider, welcher sich immer mehr dessen bewusst wird, das jeder Mensch auf der Suche nach Erlösung der eigenen Seele ist.

Balco Atlantico ist ein ergreifend menschliches Buch. Die fein nuancierten Charaktere wirken lebendig und authentisch. Beim Lesen pendelt man zwischen amüsiertem Mitleid und echter Ergriffenheit, während die Geschichte sich am Ende wie ein Ring an den Anfang anknüpft. Es macht nachdenklich - ob der hier enthaltenen Wahrheit, welche, jeder Leser für sich, auf ganz eigene Weise interpretieren darf.

Eine klare Leseempfehlung.

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