Durch die Wüste
- Fehsenfeld
- Erschienen: Dezember 1889
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- Bamberg: Karl-May-Verlag, 2003, Seiten: 560, Originalsprache
- Freiburg: Fehsenfeld, 1890, Originalsprache
In die Wüste geworfen
Der deutsche Kara Ben Nemsi (ein Alter Ego von Karl May) und sein getreuer Diener Hadschi Halef Omar erleben diverse Abenteuer in Ägypten und im vorderen Orient in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. Unsere Helden müssen Morde aufklären, geraten mehrfach in Gefangenschaft, kämpfen gegen korrupte Lokalpolitiker, müssen eine entführte Frau aus einem Harem befreien, einem Sheik auf seinem Feldzug begleiten und andere Abenteuer mehr.
Was hat uns der Sachse Karl May (1842-1912) heute noch zu sagen? Den Namen kennt nach wie vor wohl jedes Kind, aber der Kontakt zu den letzten ein bis zwei Generationen Jugendlichen ist wohl etwas abgerissen. Verständlich: Die große Renaissance durch die immens erfolgreiche Kinoserie (1962-1967) ist inzwischen ebenfalls ein gutes halbes Jahrhundert her, und der Western ist als Genre aus der Mode geraten. Ähnliches gilt wohl auch für offensichtlich nur der Phantasie entsprungene, naive Orient-Abenteuer.
Karl May war eine faszinierende Persönlichkeit: In ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, scheiterte recht früh eine bürgerliche Existenz; Gefängnisaufenthalte folgten, dann die Kehrtwende durch die Entdeckung seines schriftstellerischen Talents, welches ihn schnell zum erfolgreichsten Unterhaltungsschriftsteller des 19. Jahrhunderts aufsteigen ließ. Dabei machte Karl May eigentlich nur das, was jeder Junge macht: Er fantasierte sich selbst in fremde Welten und erlebte dort Abenteuer. Sein Alter Ego in Nord- und Südamerika hieß Old Shatterhand, die gleiche Heldenfigur erhielt in den Orient-Abenteuern den Namen Kara (lautmalerisch Arabisch für Karl) Ben Nemsi ("Sohn der Deutschen"). Groß war Karl Mays Ernüchterung, als er Anfang des 20. Jahrhunderts als inzwischen Star-Autor dann tatsächlich selbst einmal die Länder bereiste, die er bisher nur literarisch bereist und die er bisher ausschließlich aus angelesenem Wissen und seiner Phantasie zusammen gesetzt hatte. In diverse (eher unnötigen) Rechtsstreits verstrickt, starb er schließlich 1912.
Karl Mays Romane wurden das nächste halbe Jahrhundert immer wieder aufgelegt und gerade, als Anfang der 1960er die Urheberrechte abzulaufen drohten und der Karl May-Verlag sich schweren Zeiten ausgesetzt sah, geschah das Rettungs-Wunder in Form der erfolgreichsten deutschen Kinoserie nach dem zweiten Weltkrieg: 17 mitunter enorm erfolgreiche Karl May-Verfilmungen, die mindestens drei weitere Jahrzehnte dafür sorgten, dass die grünen Karl May-Bücher aus keiner Buchhandlung und fast keinem Kinderzimmer wegzudenken waren - und jedem Jugendlichen Helden wie Old Shatterhand, Winnetou, Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar wie selbstverständlich geläufig waren. Erst in den letzten 10 bis 15 Jahren konnte man beobachten, dass die "Grünen Bücher" nicht mehr wie selbstverständlich in jeder Buchhandlung lagen. Für die Jugend sind die erstmals 1892 entstandenen Romane nun doch zu lange her und neuere Heldenfiguren wie Harry Potter oder Katniss Everdeen beanspruchen heute die Aufmerksamkeit jugendlicher Leser.
Durch die Wüste ist der erste Band des so genannten Orient-Zyklus, der erstmals in diversen Folgen in einer Zeitschrift namens "Der deutsche Hausschatz" in den Jahren 1881 bis 1888 erschien. Den damaligen Produktionsbedingungen geschuldet - Romane erschienen als serielle Lieferungen in Zeitschriften oder über die Kolportage-Vertriebsschiene, Autoren wurden danach bezahlt, wie viele Zeilen sie ablieferten - erreichten Erzählungen mitunter beängstigend Längen: 2.600 Seiten waren keine Seltenheit. Trotz diverser Bearbeitungen und Kürzungen füllt der Orient-Zyklus in der offiziellen Karl May-Gesamtausgabe immer noch sechs Bände mit einer Stärke von durchschnittlich 550 Seiten, Durch die Wüste ist nur der Auftakt davon.
Auffallend ist zunächst ein durchaus postmodernes Merkmal: Durch die Wüste fängt unmittelbar an, man wird mitten in einen Dialog zwischen Kara Ben Nemsi und seinem Diener Hadschi Halef Omar in der Wüste hinein geworfen, und - so viel sei verraten - der Roman endet auch eher abrupt. Dies mag natürlich der Herkunftsgeschichte des Textes geschuldet sein, die Einteilung in Romane ist letztlich willkürlich, aber notwendig um handhabbare Bände publizieren zu können. Ebenfalls der Textherkunftsgeschichte ist die Tatsache geschuldet, dass den Roman eine durchgehende Episodenhaftigkeit auszeichnet. Episoden, die zwar teilweise lose miteinander verknüpft sind, es wäre aber vermessen, von einem stringent durchkomponierten Roman mit einem durchgehenden Handlungsbogen zu sprechen. Teilweise wird man recht unvermittelt durch Zeitsprünge und Ortswechsel zusammen mit Kara Ben Nemsi von einem Abenteuer ins nächste geworfen –was aber immerhin für Abwechslung und Tempo sorgt: Mal müssen Häscher verfolgt oder eine Schlacht geschlagen werden, in anderen Fällen kommt es aber auch nur auf die Redekunst der Helden oder listenreiches Geschick an.
Im Zeitalter der stetig an sich selbst zweifelnden, durchpsychologisierten Helden ist es fast eine wohlige Abwechslung, mal wieder mit einem Helden wie Kara Ben Nemsi konfrontiert zu werden. Er spricht diverse Sprachen, beherrscht Sitten, Gebräuche und Geographie jeder Gegend die er bereist spielend und ist geistig und im Kampfgeschick allen anderen Freunden und Feinden der Geschichte weit, weit überlegen. Der Begriff Superheld ist durchaus angebracht – und dankenswerter Weise einer, der uns nicht mit seiner Origin Story langweilt. Zumindest in diesem Roman erfahren wir über Kara Ben Nemsis Herkunft kaum etwas – auch in späteren Büchern übrigens nicht, nicht mal, wie er sich und Hadschi Halef Omar kennen gelernt haben, diese Lücke schloss erst der bekannte Jugendbuchautor und Karl May-Fan Jörg Kastner in seinem Roman Hadschi Halef Omar (überarbeitet 2010 ebenfalls im Karl May-Verlag erschienen). Es wird sicher Leser geben, die diesen überlegenen Heldentyp altmodisch finden, im heutigen Umfeld literarischer Helden ist ein solcher Proto-Superheld aber fast schon wieder eine sympathische Abwechslung. Und: Waren wir als Jungen in unserer Phantasie nicht auch immer allen anderen haushoch überlegen? Ungewöhnlich für heutige Leser ist nur, da merkt man das Alter des Romans, das würde heute kein Autor mehr so schreiben, dass Kara Ben Nemsi ständig die Pferde unter seiner Feinden weg erschießt. Die Feinde zu schonen ist ja lobenswert, das würden heutige Autoren aber anders lösen, als kaltschnäuzig immer die armen Hottemaxe dranzugeben.
An dieser Stelle seien einige Worte zum Orient-Bild des Romans zu verlieren, und dieses befindet sich in einem ausgesprochenen interessanten Spannungsfeld: Auf der einen Seite ist ein paternalischer Blick des 19. Jahrhunderts nicht zu übersehen: Orientale werden schon mal als "Halbwilde" bezeichnet und es herrschen Klischees vor, vom blumig sprechenden, verschlagenen, korrupten Araber, der natürlich dem Helden aus Europa in jeglicher Hinsicht unterlegen ist, wenn es darauf ankommt. Auf der anderen Seite spürt man aber auf jeder Seite mit großer Intensität einen aufrichtigen, großen Respekt, ja fast eine liebevolle Zuneigung der arabischen Kultur gegenüber (die May, wie gesagt, zur Abfassung des Textes nicht aus eigener Anschauung kannte), und dies gilt sowohl für den Erzähler Karl May, als auch, sofern man das überhaupt trennen kann, für sein Alter Ego Kara Ben Nemsi.
Dieser große Respekt ist vermutlich eines der Erfolgsgeheimnisse von Karl May. Andere Erfolgsgeheimnisse lassen sich ebenfalls bei der Lektüre erspüren, und davon nicht zu wenig: Der Autor verfügt über eine wirklich unerschöpfliche Fantasie, der Abwechslungsreichtum der verschiedenen Episoden untereinander ist enorm, und Karl May (oder die späteren Bearbeiter des Romans?) lässt ein traumhaft sicheres Gespür für Erzählökonomie und Unterhaltungswerte erkennen: Die Szenen des Buches, immer präzise so lang, wie sie sein müssen, fliegen nur so am Leser vorbei und viele der Erzählmomente machen enorm viel Freude - ob nun Verschlagenheit überführt wird, der Held im Kampf obsiegt, oder immer mal wieder sein Edelmut die Überhand gewinnt. Auch letzteres ist eher ungewöhnlich im heutigen Umfeld zynischer Anti-Helden: Kara Ben Nemsi verschont seine Feinde, lässt sie teilweise sogar unter nicht unerheblichen eigenen Risiken laufen – und gewinnt so umso mehr Respekt vor Freund und Feind.
Einer der größten Anachronismen des Romans ist gleichzeitig der, der für den größten Unterhaltungswert sorgt: Die höchst blumige, umständliche Sprache. Da Karl May ein sehr sicheres Ohr für treffsichere Dialoge hatte, große Übersicht darüber, was seine Helden antreibt und ein ausgezeichnetes Gespür für (häufig auch komisches) Timing, sind auch die unzähligen langen Dialogszenen eine reine Freude und wechseln sich gekonnt mit Abenteuerlichkeit und Schlachtgetümmel ab.
Der Ruf als Jugendroman kommt nicht von ungefähr. Trotz vieler Auseinandersetzungen ist der Roman erstaunlich unblutig und Geschlechtlichkeit wird völlig ausgeblendet – immerhin erkennt der Autor an, dass Männer und Frauen existieren und diese gelegentlich heiraten, mehr aber auch nicht. Frauenfiguren kommen übrigens nur am Rande vor, werden aber durchaus als mutig und selbstbewusst gezeichnet.
Dadurch, dass der Schauplatz des Orients alleinig der Phantasie Karl Mays entsprungen ist, altert der Roman überraschend gut – es ist einfach ein Abenteuerland vor entsprechender Kulisse, wobei der Autor seinen Lesern erstaunlich viele Fremdworte vor- und anderes Vorwissen voraussetzt, eine Tatsache, der der Karl May-Verlag mit diversen Fußnoten zu begegnen versucht.
Durch die Wüste ist ein enorm temporeicher, vor dichter Atmosphäre nur so strotzender, saft- und kraftvoller Abenteuerroman, der sich auf zwei sympathische Helden und unzählige hervorragend geschriebene Dialogszenen im dynamischen Wechsel mit Abenteuermomenten stützen kann. Mehr sicherlich nicht, aber das ist schon eine ganze Menge. Tiefgang darf man nicht erwarten, auch wenn sich May immerhin mitunter sogar Zeit nimmt für philosophische und theologische Diskussionen – eine im heutigen Abenteuerliteraturumfeld viel zu selten anzutreffende Tugend.
Karl Mays Geschichten haben einen langen Weg hinter sich, von augenfeindlich eng bedruckten Loseblatt-Serienlieferungen des 19. Jahrhunderts über diverse Buchausgaben und Bearbeitungen über ein Jahrhundert lang, hin zu lebens- und ruhmverlängernden Kinofilmen und bis in die heutige Zeit höchst erfolgreichen Freiluftaufführungen, bis schließlich in unser digitalen Zeitalter mit Hörbüchern und EBooks.
Als unbefangener Nicht-Karl May-Aktivist kann der Verfasser dieser Zeilen umso mehr im Brustton der Überzeugung feststellen, dass wir uns als Leser einen Bärendienst erweisen, wenn wir diesen hervorragenden und hochtalentierten Unterhaltungsschriftsteller weiter dem Vergessen anheim geben. Nicht der Autor Karl May aus Prinzip, nein, wir haben es verdient, diese Bücher weiter zu lesen.
Wie oben beschrieben, Durch die Wüste endet ziemlich abrupt, man spürt, dass der Autor hier keinen Abschluss vorgesehen hatte. Nach der Lektüre war das Verlangen im Verfasser dieser Zeilen sehr groß, nicht vom Kamel abzusteigen um Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar bei ihren nächsten Abenteuern weiter zu folgen, sehr bald also den nächsten Band des Orient-Zyklus’ Durchs wilde Kurdistan in die Hand zu nehmen. Wer weiß, trotz des prallen Lesevergnügens mit diesem Band, vielleicht ermüden diese endlosen seriellen Abenteuer irgendwann dann doch einmal, davon ist man aber nach diesem ersten Band noch weit, weit entfernt. Als Meister des Eskapismus hat uns Karl May auch heute noch viel zu sagen, hören wir ihm doch weiter zu. Auf das nächste Jahrhundert, Effendi.
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