Carambole

  • Zürich: Dörlemann, 2013, Seiten: 224, Originalsprache
Carambole
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Britta Höhne
921001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2013

»Warten das Ende des Wartens ab«

Ein Mann schreibt einen Brief. Edgar heißt er, hat Frau und Tochter, einen Schuppen im Garten, in den er sich zurück zieht: Zum Weinen. Einmal in der Woche, weil er die Welt verstehen will. Verstehen will, warum alles auseinander fällt. Die Tochter geht, gerade erst 15 Jahre alt, zu einer Freundin, weil sie mit den Eltern nicht mehr zurecht kommt. Noch nie zurecht gekommen ist. Ist alles normal, denkt die Frau. Alles muss so sein. Ist richtig. Aber warum? Zwölf Runden voller Fragen stellt Jens Steiner in seinem Roman Carambole und dabei ist er zum Schluss nicht K.o. gegangen, sondern hat sich den Schweizer Buchpreis gesichert. Zu Recht.

»Ein Roman in zwölf Runden« heißt es auf dem Cover des Buches. Und alle zwölf Runden, oder Episoden, spielen in ein und demselben Dorf. Steiner schildert ganz unterschiedliche Situationen – überwiegend aus der Sicht dreier Freunde – und beleuchtet dabei, dass das oft so normal gelebte Leben doch alles andere ist, als der Norm entsprechend. Aus Sicht der anderen zumindest und besonders dann, wenn die Fassade bröckelt.

Jens Steiner, Jahrgang 1975, stellt viele Fragen in seinem ausgezeichneten Roman. Viele Warums reihen sich aneinander. Fragen zwar, aber kaum Antworten. Nur stiller Respekt vor dem Leben der anderen. Egal, ob es sich auf einem Balkon abspielt, zwei Brüder sich im Zorn getrennt haben, Mütter wahnsinnig werden, Männer sich an zwei Gläsern Bier am Tag festhalten, Väter sich zum Weinen zurück ziehen, ein Tennisspieler, ein Netter, verschwindet, einem Familienvater, der einen Pool im Garten bauen möchte und an seine Grenzen stößt und warum ein Junge sich für seltsame Insekten wie Mantiden interessiert:

 

»Bei den Mädels hast du mit Heuschrecken und Schach die schlechtesten Karten in der Hand«

 

lässt ein Freund ihn wissen. Manu stört das nicht. Steiner malt das Bild eines Dorfes, einer offensichtlichen Gemeinschaft, die ungeordneter kaum sein kann. Alles, nur nicht homogen.

Steiner macht das klug. Mit Hilfe dreier Freunde: Igor, Fred und Manu. Sie alle fürchten sich vor der Langeweile da draußen, scheuen die großen Sommerferien, weil sie nicht verreisen können – oder wollen – und die Zeit im Dorf verbringen müssen. Dorfstraße hoch, Dorfstraße runter, vorbei an dem, was ein Dorf zu bieten hat: Kindergarten, Bäcker, Metzger. Nicht viel.

 

»Bald, dachte Igor, werden wir hier festgewachsen und Teil von Freysingers Garten sein.«

 

Sie nähern sich einander an, jeder versucht mit sich und seiner Lage und vor allem mit der eigenen Entwicklung zurecht zu kommen. Was, wie an Renate, der Tochter des weinenden Mannes, abzulesen ist, nicht immer funktioniert.

 

»Mann, so werden wir noch in tausend Jahren hier sitzen.«

 

Langeweile! Langeweile und kein Ende. Ein Stillstand der Zeit allerdings, der zu explodieren droht. Hinter jeder Fassade brodelt es. Keiner ist bereit sein Leben so anzunehmen, wie es zu laufen vorgegeben scheint. Jeder der Protagonisten will weg, Änderung, sich bewegen:

 

»Wohin, Leute?«, rief er. »Egal. Hauptsache, wir gehen.«

 

Ein Satz für alles.

Mit »Pause und weiter« ist eine der zwölf Geschichten überschrieben. Eine überaus interessante. Eine, die dem Buch den Titel Carambole verleiht. Eigentlich Carrom, ein indisches Brettspiel. Ricardo, Giorgio und Gustavo treffen sich, trinken Jerez, Wermut und Pastis und spielen und reden.

 

»Alte Männer brauchen Einfachheit«

 

sagen sie sich und verabreden sich regelmäßig. Was diskutiert wird allerdings ist alles andere als einfach: Antonio Gramski, Epiktet und Lucy, die berühmte Vorfahrin der Australopithecinen. Keine leichte Kost.

Kapitel später tauchen die drei Herren wieder auf. Tragen andere Namen und haben andere Leben. Auch ihre Vergangenheiten muten anders an – als erwartet: Die Altherren-Troika leidet und zweifelt am Dasein und ganz besonders am Konstrukt der Familie:

 

»Ich hatte immer gedacht: Die Familie hält dich über dem Abgrund, denn sie ist das letzte Sicherheitsnetz, das dich zwar nicht vor jedem Sturz schützt, aber ganz sicher vor dem letzten, tiefsten Fall. Das hatte ich gedacht. Ich hatte wirklich nie viel begriffen.«

 

Die Idee des Autors, zwölf Stränge am Ende zu einem zu vernetzten, ist nicht neu. Ganz großartig ist es etwas vor ihm der Japanerin Yokō Ogawa in Das Ende des Bengalischen Tigers gelungen. Elf Geschichten sind es bei ihr, die alleine stehen könnten, aber am Ende doch eine Einheit bilden. Steiner hat seine zwölf Runden ebenfalls zu einem gemeinsamen Ende zusammen gefügt. Darin lässt er seinen Protagonisten kleine Schlupflöcher, um wieder zueinander zu finden – oder, um einen ganz anderen Weg einzuschlagen.

Steiners Sprache ist poetisch, niedlich zuweilen, dann wenn er Wörter wie »Spuckeklecksen« benutzt, oder »Schwupps-flupps« oder sich über die »Kotasür« lustig macht. Was aber passt, weil seine drei Helden jugendlich sind. Nicht mehr Kind, aber erwachsen auch noch nicht.

So würdigt auch die Jury, die den diesjährigen Schweizer Buchpreis vergeben hat das Buch von Jens Steiner »als einen Roman von großer poetischer Kraft, der in zwölf Runden einen dörflichen Schauplatz zwischen Stille und untergründiger Gewalt komponiert«. Da hat sie mal Recht.

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