Winterjournal

  • Rowohlt
  • Erschienen: Januar 2013
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  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2013, Seiten: 253, Übersetzt: Werner Schmitz
  • New York: Henry Holt and Co., 2012, Titel: 'Winter journal', Originalsprache
Winterjournal
Winterjournal
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Claire Schmartz
651001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2013

Sprich jetzt, bevor es zu spät ist, und hoffentlich kannst du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist.

Start im Hochsommer der Jugend, Ende im Winter des Lebens. So schließt sich der Rahmen des Romans, und so wird sich auch der Lebenskreis schließen. Doch deprimierend ist Paul Austers Autobiographie nicht, nein, sie ist hoffnungsvoll und offen. So überrascht es auch nicht, dass Auster bereits dabei ist, ein neues Werk zu verfassen, um sich selbst zu fassen, "Report from the Interior", als Reflexion aus seinem Innersten heraus.

Paul Austers Winterjournal ist keine Autobiographie im konventionellen Sinne. Sie reiht nicht Namen, Begegnungen oder Publikationen des Autors aneinander, denn Auster gestaltet sein Werk viel persönlicher und überrumpelt den Leser gleich mit einem von ihm verursachten Autounfall, lässt ihn zum Teil werden - indem er ihn nahezu überrennt. Gerade das immer wiederkehrende Motiv des Todes zeigt den Autor am Rätseln, selber auf der Suche, wie auch der Leser selbst. Es gibt keine Schlussfolgerung, es gibt nur Unverständnis und Sprachlosigkeit. Wir suchen gemeinsam mit dem Autor, und blicken von unserem jeweiligen Lebensstandpunkt auf ein (von meinem Standpunkt) Übermaß an Lebenserfahrung, das dennoch nicht die Rätsel des Lebens zu entschlüsseln vermochte: Es ist die "Bilanz eines intensiv gelebten Lebens". Dabei versammeln sich hier Episoden aus dem gesamten Leben von der Kindheit bis zu Austers jetzigem Alter – und setzen sich immer wieder mit dem Thema auseinander: Todeserfahrungen und Todesempfinden. Die Collagehaftigkeit der Autobiographie erlaubt es Auster, vom Mikro ins Makro zu springen, von seinem Körper aufs Leben zu verweisen, und so begegnen sich hier Episoden vom Entstehen und Vergehen von Beziehungen, von Wohnungen, von eigenen Todeserfahrungen zu der Rezeption des Todes seiner Eltern, vom Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg zu der Verarbeitung der Schuldfrage der französischen Nachbarn. Auch der Zufall bleibt ein wichtiger Faktor, wird wiederholt untermalt mit der Geschichte, wie Auster als Junge von 14 Jahren miterleben musste, wie ein Freund von ihm nur wenige Meter entfernt von einem Blitz erschlagen wurde.

 

"[...] aber der Tod lässt dich erstarren, er schaltet dich ab, kappt jegliche Emotionen, jegliche Gemütsbewegung, jegliche Verbindung zu deinem Herzen. Von Anfang an bist du im Angesicht des Todes abgestorben [...]"

 

Anhand der Beschreibung von Alltäglichem fügt sich die Erzählung episodischer Fragmente zu einem größeren Bild. Mit diesem neuen Ansatz schafft Auster zahlreiche Freiräume, die sich von dem Augenblick, indem er, 64 Jahre alt, barfuß bis zum Fenster seines Arbeitszimmer tritt, ableiten lassen.

Eine richtige Autobiographie ist es nicht, und das ist auch gar nicht das Ziel, das der jüdisch-amerikanische Autor verfolgt – er schafft sich eine eigene Form. So gelingt es, anhand der Auflistung aller Wohnungen in denen er je gelebt hat, sein Leben festzumachen, mit wem er wie lange wo lebte, welche Werke er verfasste, welche Länder er besuchte, wie lange er reiste... Auster empfindet einerseits sein Leben in groben Zügen nach, und spiegelt gleichzeitig Amerikas Gesellschaft und Bewohner, Finanzkrisen, Wohnprobleme, Nachbarschafts- und Immigrationsgeschichten.

Gewinnt die Autobiographie durch diese verdichtete Oberflächlichkeit an Tiefe und ergibt es ein Gesamtbild? Nein und Ja. Vielleicht ist dies die beste Form, um mit einer ähnlichen Thematik umzugehen – Auster will nicht belehren oder mit Moral um sich werfen, er will keine allgemeingültigen Wahrheiten verkaufen oder urteilen. Auster erzählt, und lässt dem Leser die Möglichkeit, so viel über den Autor, aber auch über den Leser selbst zu folgern, wie ihm möglich ist. Und doch verliert man sich in der collagehaften Episodenhaftigkeit der Erzählungen schnell.

Austers Werk ist angenehm zu lesen, da man den Autor von einer sehr intimen und verletzlichen Seite kennen lernt: Er scheut sich nicht, dem Leser seine geistigen und körperlichen Versagen auszubreiten, zu wiederholen und zu unterstreichen, dass wir alle nur Mensch sind, mit allen nötigen körperlichen Übeln und Bedürfnissen. Da gibt es einerseits viel Liebe, andererseits auch viel Körperlichkeit – und noch so einiges dazwischen. Es gibt wunderschöne Erzählungen aus der Kindheit, von Schokoladenriegeln und Schulanekdoten. Ein Band spinnt sich zwischen den beiden Extremen der Erzählung, ermöglicht eine wechselseitige Reflexion über das eine Alter - vom Standpunkt des anderen aus.

Die Erfahrung schwebt zwischen den Zeilen, als sei man Zeuge von Erlebnissen und ziehe seine eigenen Erfahrungen. Und dennoch fehlt einem manchmal die Stimme des Autors selber, um diese zu vermitteln und auf den Punkt zu bringen. Belehrt will der Leser nicht werden, und dennoch erwartet man sich nach der Ankündigung einer "Bilanz eines intensiv gelebten Lebens" eine Lebensweisheit. Und diese liefert Auster in Form eines "Inventars" seines intensiv gelebten Lebens. Auster blickt noch weiter, er blickt nicht nur zurück. Seine Autobiographie ist kein gerundetes Ganzes, man spürt, dass es noch weitergehen wird. Der Kreis der Erzählung schließt sich nahtlos, und doch bleiben zwischen den zahllosen Sprüngen durch die freie Assoziation einige Risse und Lücken offen. Dabei geht aber auch Vieles verloren. Ob sich dem Leser all dies erschließt, oder ob Auster dem in seinem "Report from the Interior" Weiteres hinzufügt, das so manches nachdrücklich füllen könnte, bleibt offen.

Winterjournal

Paul Auster, Rowohlt

Winterjournal

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