Der Mann, die Frau, das Schaf, das Kind
- Unionsverlag
- Erschienen: Januar 2013
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- Zürich: Unionsverlag, 2013, Seiten: 400, Originalsprache
Entwurzelte Nomadenseelen zwischen Tradition und Moderne
Wer wünscht sich das nicht, einmal bei einem Fernsehquiz dabei sein und sogar mit einem Gewinn nach Hause gehen. Zumindest dann, wenn es sich bei dem Gewinn um Geld, ein tolles Auto oder eine Reise handelt. Leider hat Dsajaa nichts von alledem bekommen: Ihr Preis ist ein altes, schlachtreifes Schaf, viel zu groß und laut, um es in ihrer Mietwohnung unterzubringen. Was tun? Es selber schlachten um es los zu werden? Keine Vorstellung, die der jungen Frau besonders zusagen würde. Als dann auch noch ihr Freund ihr gegenüber gewalttätig wird, sieht sie keinen anderen Ausweg als das Schaf kurzfristig bei einem ihr bis zu diesem Zeitpunkt unbekannten Nachbarn unterzubringen. Das sich dadurch nicht nur ihr Problem mit dem Hammel lösen wird, sondern sie außerdem einen Freund, Vater und Seelenverwandten findet wird, kann sie da noch nicht ahnen.
Ein alter Mann, eine junge Frau und ein Schaf begegnen sich nicht etwa im Grünen, sondern im dunklen und engen Hausflur eines großstädtischen Hochhauses. Denn: Die junge Frau, Dsajaa, hat das Schaf kurz zuvor bei einem Fernsehquiz gewonnen. Es ist klar, dass das Schaf hier nicht hingehört, aber dennoch versorgt werden muss. In ihrer Verzweiflung gibt Dsajaa das Tier vorübergehend bei ihrem Nachbarn ab. Als sie vor Einbruch der Dunkelheit nicht wiederkommt und der Lärm des Schafes immer unerträglicher wird, weiß sich Nüüdül nicht mehr anderes zu helfen. Er schlachtet das Schaf und als Dsajaa am nächsten Tag vorbeikommt, um das Schaf zu holen ist auch sie heilfroh über diese Lösung. Beim gemeinsamen Verspeisen des Fleisches, stellen die beiden so unterschiedlichen Personen fest, dass sie mehr verbindet als diese kurze Episode: Beide teilen eine gemeinsame Vergangenheit und sind einsame, in der Großstadt gestrandete Menschen mit einer gefangenen Nomadenseele.
Galsan Tschinag, geboren 1944 in der Mongolei, ist ein deutschsprachiger Schriftsteller. Er studierte in Deutschland Germanistik, bevor er anschließend wieder in seine Heimat zurückging, um dort zu Lehren. Heute lebt er den größten Teil des Jahres in der Landeshauptstadt Ulan Bator, gemeinsam mit seiner knapp 20-köpfigen Familie, und verbringt viel Zeit auf Lesereisen im deutschsprachigen Raum. Er schreibt seine Romane, Erzählungen und Gedichte meist auf Deutsch, weshalb er als deutschsprachiger Migrantenschriftsteller gesehen wird. Seine Erzählungen wurden auch in zahlreiche andere Sprachen übersetzt.
In seinem neuesten Roman Der Mann, die Frau, das Schaf, das Kind erzählt Galsan Tschinag die Geschichte zweier Menschen, die sich unter normalen Umständen, obgleich im selben Haus wohnend, wohl nie richtig kennengelernt hätten. Denn eigentlich haben sie auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Sie ist jung, hübsch, hat einen guten Beruf und scheint ein wohl situiertes Leben zu führen. Er hingegen ist alt, ein ehemaliger Nomade, der irgendwie über Umwege in der Großstadt gelandet ist und dort seinen Lebensabend gestaltet. Als sie durch das Schaf schließlich zusammengeführt werden, merken sie bald, was ihnen im Leben gefehlt hat - und schnell empfinden sie sich nicht mehr als Nachbarn, sondern als Vater und Tochter.
Galsan Tschinag gelingt es dabei auf einfühlsame Weise, die besondere Beziehung seiner beiden Protagonisten erzählerisch darzustellen. Der Umgang Nüüdüls und Dsajaas ist geprägt von Respekt und Ehrfurcht, was sich vor allem durch seine beinahe poetisch wirkende Sprache ausdrückt:
"Nüüdül sieht den nachdenklichen, warmen Blick Dsajaas auf sich und weiß den ersehnten Augenblick gekommen. So spricht er die Worte, die er schon lang auf der Zunge gespürt und erwogen hat, endlich aus: "Und was würdest du dazu sagen, mein liebes Kind, wenn ich alter, einsamer Mensch, wie der junge Bursche von vorhin, zu dir sagen würde: 'Darf ich dich adoptieren?'" Darauf sieht er sie auffahren. Dann, nach einer Unzahl von endlos langsamen, lauten Pulsschlägen, glaubt er, ihre Stimme, so leise wie gehaucht, zu vernehmen: "Nüüjäh!"
Der Autor beschreibt seinen nicht nur eine fremde Kultur und Lebensweise, sondern zeigt auch, wie sich durch Sprache und Kommunikation Beziehungsmuster unterscheiden. Als Angehöriger der aus europäischer Sicht fremden Welt schafft er es, authentisch und realistisch von einer fernen Lebensweise zu berichten und gewährt interessante Einblicke.
Alles in allem ist Der Mann, die Frau, das Schaf, das Kind ein Roman, der sowohl sprachlich wie auch inhaltlich stark durch die nomadische Seele geprägt ist. Galsan Tschinag läd mit seinem neuesten Werk auf eine Reise in eine fremde Welt ein. Auch wenn die Sprache zunächst etwas gewöhnungsbedürftig ist und umständlich bis langatmig erscheinen mag, wird deutlich, dass es gerade diese Sprache ist, die der Geschichte ihre Authentizität verleiht. Ein lesenswerter Roman!
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