Tigermilch

  • Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013, Seiten: 288, Originalsprache
Tigermilch
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Britta Höhne
801001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2013

Mit dem Leben Schnik Schnak Schnuk spielen

Schnoddrige Sprache ist gerade sehr modern. Hingerotze Sätze, nicht einmal mehr bestehend aus Subjekt, Prädikat, Objekt. Ein-Wort-Sätze. Telegrammstil in einer Sprache, die nur noch Fragmente abverlangt. Auch der Inhalt scheint fragwürdig. Um Ehrenmord geht es, um zwei junge Mädchen, noch längst nicht volljährig, deren größtes Ferienziel die Entjungferung ist. Was so schrecklich klingt, liest sich ganz großartig. Anders etwa als "Feuchtgebiete" (Roche) oder Meyers "Im Stein", die sich einem ähnlichen Duktus bedienen. Stefanie de Velasco heißt das junge Talent und "Tigermilch" ihr Roman.

Sprache lebt. Sprache muss lebendig sein und die von pubertierenden Teenagern - die nicht mehr Kind sind und vom Erwachsensein noch weit entfernt – ganz besonders. De Velasco setzt um, was auf der Straße zu hören ist. In diesem Fall in einer Wohnblock-Siedlung irgendwo in Berlin. Ein Spielplatz, wie gewagt, ist der Mittelpunkt des Geschehens. Dort sind sie alle gemeinsam aufgewachsen, die junge Nini, deren Vater sich aus den Staub gemacht hat, Jameelah, das Flüchtlingsmädchen aus dem Irak, Amir, seine Geschwister Tarik und Jasna, die zum Ende des Romans nicht mehr sein wird. Viele gestrauchelte Existenzen durchwandern den Roman. Angst ist ein Grundgefühl. Aber auch Mut und Durchhaltewille, selbst dann, wenn nur das Schlechte eines Menschen zurück bleibt.

Nini und Jameelah wachsen in der gleichen Siedlung auf. Beide sind 14 Jahre alt und unzertrennlich. Jameelahs Geschichte ist eine traurige. Sie ist alleine mit ihrer Mutter aus dem Irak gekommen, weil ihr Vater und Bruder ermordet wurden. Nini ist das Kind einer gescheiterten Beziehung. Ein Mann geht, ein neuer kommt und dazu noch ein Geschwisterchen. Beide Mädchen halten sich für schlau – und für sehr erwachsen. Sie kaufen sich Ringelstrümfe, ziehen sie bis zu den Oberschenkeln hoch und fahren dann zum Kurfürstendamm und stellen sich in die Reihe der Prostituierten. Sie klauen all das, was  zum Leben zweier Vierzehnjähriger einfach dazu gehört: Billigschmuck, Lippenstift, Kaugummis... Sie trinken Tigermilch, eine Mischung aus Maracujasaft, Mariacron und etwas Milch. Gemischt wird in Müllermilch-Plastikflaschen, in denen zudem regelmäßig das Diebesgut versenkt wird.

Amir ist der dritte im Bunde. Er ist wie ein kleiner Bruder für die beiden Freundinnen, einer, der beschützt werden muss, auch, weil sein großer Bruder Tarik ihn immer "Mädchen" nennt. Tarik, der humpelt, weil ihm im Krieg ein Teil seines Beines abgeschossen wurde. Die bosnischen Flüchtlingsgeschwister leben nebst Mutter im Block gegenüber.

Die Stimmung innerhalb dieser Familie ist schlecht und sie wird noch schlechter, als Schwester Jasna sich in einen Serben verliebt und diesen auch noch heiraten will. Ein Familiendrama schlimmsten Ausmaßes geschieht – und die beiden Freundinnen sind ungewollte Zeugen.

De Velascos Geschichte wäre nicht auszuhalten, ließe sie ihre jungen Protagonisten zwischendurch nicht einfach einmal ganz normale Teenager sein, die Schule schwänzen, null Bock zu nix haben, mit Freunden abhängen, Tigermilch trinken, Hauswände besprühen, dabei Schmiere stehen, ins Schwimmbad gehen und immer wieder "Wörterknacken" spielen. Dann werden Buchstaben vertauscht. "Aus Luft macht sie Lust, aus Nacht nackt, Lustballons, Nacktschicht, Lustschutzkeller mit Nacktwächtern." Dann tauchen sie ein, die beiden Mädchen in eine kindliche Fantasiewelt, die aber immer schon einen Anflug des viel weiter Seins bereit hält. Hässliche Worte, darin sind sich beide einig, beginnen oft mit einem "K": Krieg, Kazett, Knast, Krebs, Kaserne, Krankenhaus und Kartoffel. Letztere ist nicht per se schlecht, nicht dann, wenn Ausländer zu Inländen werden und zum Dank eine Kartoffelparty feiern. Die Kartoffel als Sinnbild für alles Deutsche. Nini und Jameelah feiern ihr Fest, neben dem Flughafen. Aus den Radioboxen dröhnt "Verdammt ich lieb dich." In der Flughafenhalle wartet  Jameelahs Mutter mit den Tickets in Richtung Heimat – was immer das für das junge Mädchen heißt.

 

"Hör auf, sagt Jameelah, es gibt so viele gute Dinge in Deutschland.
Was denn?
Weiß nicht, alles Mögliche.
Siehst du. Jetzt fällt dir nichts ein.
Doch. Zum Beispiel, dass draußen vor den Geschäften im Sommer immer Wasser für die Hunde steht... so was bescheuert Normales wie Wasser für die Hunde, das macht das Leben aus."

 

Jameelah geht.
Ende.

Ein schöner Debütroman voller großer Inhalte. Vom Erwachsen werden, von der Ehre und davon, alles für die Familie zu tun – auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist der Begriff Familie mit Schmerz verbunden, weil eines oder mehrere Mitglieder fehlen. Stefanie de Velasco mischt die Karten neu und sie drückt dabei nicht beständig auf die Tränendrüse. Sie lässt ihre Mitspieler Graffitis an Gefängniswände sprühen mit der Unterschrift "Sad". Weil ein Name manchmal auch Zustand sein kann.

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