Die Spieluhr
- Hörbuch Hamburg
- Erschienen: Januar 2013
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- Hamburg: Hörbuch Hamburg, 2013, Seiten: 3, Übersetzt: Ulrich Tukur
Aus der Welt gefahren
Manche Bücher scheinen dafür gemacht, sofort in die Hand genommen zu werden: Sie zu spüren, die Nase hinein zu stecken und diesen typischen Buch-Duft zu riechen. Ulrich Tukur hat so ein kleines Werk vorgelegt, eines, das zunächst optisch fesselt: Grüner Leineneinband mit reliefartiger - in Gold gefasster - Abbildung auf dem Cover. Kaum aufgeschlagen schlägt einem Schwarz ins Gesicht, wie Atlasseide. Die Spieluhr heißt die Novelle, die nicht nur optisch begeistert, sondern auch einen überaus interessanten Inhalt aufweist.
Oft müssen sich Schauspieler gefallen lassen, in Schubladen versenkt zu werden. Ulrich Tukur hat da Glück: Facettenreich ist sein Spiel und Stil. Auch wenn er schreibt. Heißt es doch gerne bei Schauspielern, sobald sie ihr Genre verlassen, jetzt singt er auch noch, malt, dichtet, schreibt, oder was auch immer. Ulrich Tukur hat für sein Erstlingswerk Die Seerose im Speisesaal aus dem Jahr 2008 durchweg positive Presse bekommen. Wie jetzt auch wieder für seine Novelle Die Spieluhr.
Tukurs Buch ist voller Kultur, Magie, Fantasie. Verschwinden doch Menschen in Gemälden, werden wieder ausgespuckt, nur, um am Ende durchzudrehen, sich das Leben zu nehmen. Sich aufzuhängen an einem alten Baum, einer Buche. Ulrich Tukur hat alles gut und logisch durchdacht. Er spielt sich selbst – oder besser, er erzählt von sich selbst – als er in die Rolle des Malers Wilhelm Uhde schlüpft. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trifft Uhde auf die wenig elegante Séraphine de Senlis, sie ist schroff, hat grobe Hände, ein bäuerliches Antlitz - aber singt und malt gar göttlich, voller religiöser Hingabe. Die beiden Charaktere könnten unterschiedlicher nicht sein. Tukur spielt den eleganten Preußen Uhde und verliert sich selbst. Erst in der Liebe, die nur eine platonische ist, da er sich eher zu Männern hingezogen fühlt und dann in die Fantasie. In die Zeit, als ein Attentat auf Adolf Hitler misslang, die Stimmung eskalierte und jeder versuchte, aus seinem Leben zu fliehen. Wie Uhde, wie alle.
Dann wird es ein bisschen grotesk: Wird doch ein Zimmer gesucht, eine Kammer für Séraphine, um Szenen zu drehen, die mit den beiden Protagonisten zusammen hängen. Der Regisseur ist schlecht gelaunt, alle irgendwie, nur Tukur nicht, der mit seinem schlechten Französisch am Set auftritt und schon dadurch für eine bessere Stimmung sorgt. Doch plötzlich verschwindet der Regieassistent. Am folgenden Tag erst kommt er verstört zurück und beginnt seine fantastische Geschichte innerhalb der Geschichte zu erzählen. Wie er über eine Brücke geht, durch ein Tor fährt. Eine Welt hinter sich lässt, eine neue betritt.
Geschichten in der Geschichte sind nicht neu. Dem 1957 in Viernheim geborenen Autor ist das Hin und Her zwischen den Strängen sehr gut gelungen, zumal seinem Stil anzumerken ist, dass er Spaß daran hatte, zwischen Zeiten und Orten zu wechseln. Seinen Ausflügen in eine andere Welt und Zeit könnten Romane wie Schnitzlers Traumnovelle, Boris Vians Der Schaum der Tage oder die fantastische Irrfahrt des abhängigen Protagonisten von Agejews Roman mit Kokain zu Grunde liegen. Oder einfach nur Tukurs Kopfkino!
Der ersten Traumsentenz folgt nur leider eine zweite, oder was es auch immer sein mag. Und da beginnt es etwas zu viel zu werden. Tukur macht die Reise, die zuvor schon der lebensmüde Regieassistent gewagt hat. Straße ins Nirgendwo, Brücke, Tor. Er erlebt, was keiner gerne erleben möchte: Den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die Panik, die aufkommt, die Fluchtpläne, die geschmiedet werden. Tukur spielt nicht mehr den Maler Uhde, sondern Doktor Wilhelm, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, der in seinem Wahn eine französische Zeitung im Bild aufnimmt, worauf das Datum "21. Juli 1944" geschrieben steht.
"Ich versuchte mich aufzuwecken. Aber es gelang nicht. Ich war wach... Ich befand mich also etwa sechzig Jahre vor meiner Zeit."
Tukurs Roman ist voller Musik. Zahlreiche große Komponisten durchstreifen das Spiel. Tukur greift das Musikalische in seiner Sprache auf, dann etwa, wenn er über die Schönheit der Wolken sinniert,
"die wie barocke Schiffe lautlos und in ungeheuren Höhen durchs Blau des Himmels segeln",
oder wenn er nachdenkt, über Fiktion und Realität. Über das was ist oder über das, was wir wollen, das es ist:
"Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte plötzlich das deutliche Gefühl, daß diese Kammer der Schlüssel war, der mir die Rückkehr in meine Wirklichkeit ermöglichte, eine Wirklichkeit, von der ich nun allerdings wußte, daß es sie gar nicht gab."
Wie gut: Am Ende ist Tukur wieder Tukur und dreht hoffentlich noch viele gute Filme. Ein kleiner Roman, eine kurze Novelle hier und da, gerne, aber lieber Herr Tukur, heißt es nicht, Schuster bleib bei deinen Leisten. Der Roman ist schön. Verwirrt. Er ist vielleicht verwirrend schön und schön verwirrend. Ein geglückter Versuch.
P.S. Der Spielfilm "Séraphine" (es gibt ihn wirklich), in dem Ulrich Tukur - unter der Regie von Martin Provost - den Maler und Kunsthändler Wilhelm Uhde spielt, erhielt im Jahr 2009 sieben César!
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