Die Kindheit Jesu

  • Fischer
  • Erschienen: Januar 2013
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  • Frankfurt: Fischer, 2013, Seiten: 352, Übersetzt: Reinhild Böhnke
Die Kindheit Jesu
Die Kindheit Jesu
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Sebastian Riemann
821001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2014

Die Frage des Glaubens

Der Literaturnobelpreisträger von 2003 nimmt sich in seinem neusten Buch eines komplizierten Themas an und vermag den Leser in Verlegenheit zu bringen mit seiner Allegorie auf das Leben und den Glauben, in einer seltsamen Welt, die doch nicht so verschieden ist von der unseren - und wo Wunderbares geschieht, auch wenn es kaum zu erkennen ist. Ohne den Namen Jesu zu verwenden, ohne Religion direkt zu thematisieren, führt Coetzee sein Publikum an der Hand, lässt es philosophischen Diskussionen beiwohnen und wirft Fragen auf, deren Beantwortung über die Lektüre hinausgehen. Ein ungewöhnlicher Roman, interessant für Anhänger und Kritiker von Religion.

In einer neuen Welt kommen ein Mann und ein Junge an, woher sie kommen weiß man nicht, wissen sie selbst nicht, auch wohin sie wollen bleibt ein Rätsel, aber auf einmal sind sie angekommen, gleich Flüchtlingen, in einem Ort namens Novilla. Simon, der erwachsene Mann, fühlt sich verpflichtet die Mutter von David, dem Jungen, zu finden, damit der Kleine in normalen Verhältnissen aufwachsen kann, so wie es sich gehört. Für sich selbst hingegen hat Simon keine nennenswerten Absichten, seine Motivation hängt einzig an dem Jungen, der auf ihn viel Eindruck macht, etwas Besonderes ist, während er selbst ein ordinärer Langweiler ist. Die beiden geben ein komplementäres Paar ab, der ältere Mann, der nüchtern und müde dahintreibt, braucht den Jungen, der getrieben von Elan und Fantasie für Bewegung im Leben der beiden sorgt, aber auch die Hilfe und Ratschläge seines zufälligen Paten nötig hat, um sich in den Dingen der Welt zurechtzufinden.

Simon will wenig, aber doch mehr als die Anderen - er will Sex, was auf wenig Verständnis in Novilla stößt - abgesehen davon bleibt er jedoch ein passiver Denker, der alles in Zweifel zieht, unzufrieden ist und sich in Gegensatz zu den restlichen Menschen im Ort setzt, ein Querulant, der öfters unangenehm wird, trotzdem geschätzt wird ob seiner Intelligenz und auch Freundschaft. In der neuen Welt leben neue Menschen, sie haben keine Begierden, keine Sehnsüchte, keine Wünsche, Simons Sexualtrieb kontrastiert sogleich mit der Gleichgültigkeit der Frauen, die kein Interesse an ihm oder irgendeinem Mann haben, vielmehr jedes Verlangen überwunden haben. Ähnlich verhält es sich mit dem Hunger, welcher Simon beständig antreibt – er wird zur Personifizierung grundlegender Bedürfnisse, aber nicht mehr, denn weiterführende Antriebe besitzt auch er nicht, genauso wenig wie die anderen Personen in dieser neuen Welt, die leer, ziellos sind und ohne weiteres bereit David zu helfen, ja, sich für ihn aufzuopfern, da sie in ihm etwas Besonderes sehen. Der Junge stellt alles auf den Kopf – nicht wirklich, denn eigentlich macht er nichts – und vermag es die Leute zu etwas zu bewegen, nämlich zu glauben und das allein erscheint außergewöhnlich in Novilla, wo alles eintönig und langweilig erscheint, und Religion kein Thema ist. Die Handlung im Roman ist überschaubar, der Junge lebt bald mit seiner Mutter zusammen, Simon richtet sich in Novilla ein, mehr schlecht als recht, und erkennt, dass David im Zentrum seines Interesses steht und so wird er zum außerordentlichen Erzieher des Kleinen. Dramatik kommt erst zum Ende auf, als die Gesellschaft in Form der Schule ins Leben der ungewöhnlichen Familie eingreift. Im Klassenzimmer, gegenüber einem strikten Lehrer, hat David Probleme, er will sich nicht eingliedern, will sich nicht verbiegen lassen, nur weil es von ihm erwartet wird. Die Schulbehörde kennt keine Rücksicht, die Besonderheit des Jungen ist unwichtig, wenn es um Pflichten geht, die Schüler vorm Lehrer, der Einzelne vor der Gesellschaft erfüllen soll. Es kommt zum offenen Konflikt zwischen Behörde und Familie, da eine Einigung nicht möglich ist, die Positionen zu verschieden sind. Es folgt die Flucht, in einem kleinen Auto, Richtung Norden, in ein neues Leben voller Ungewissheiten.

Coetzee löst sehr wenig auf in seinem Buch, die zahlreichen Fragen, resultierend aus Widersprüchen und Absurditäten, werden nicht geklärt, vielmehr wirft der Autor den Leser auf den Glauben zurück, auf die eigene Interpretation der Geschehnisse und Personen. Ob David ein besonderer Junge ist, großes vollbringen wird und spezielle Behandlung verdient, muss der Leser selbst entscheiden. In einer Szene, die für den Handlungsverlauf von großer Wichtigkeit ist, wird dies ersichtlich: David floh aus einem Erziehungsheim, behauptet dabei durch Stacheldraht gegangen zu sein, während eine Beamtin der Schulbehörde die Existenz des Stacheldrahtes abstreitet, die Einrichtung vielmehr als einen adäquaten Ort zur Erziehung des Jungen bezeichnet, wo dieser wohl auch viele Freunde fand und sich wohl fühlte. Kind und Beamtin widersprechen sich, Hinweise zum besseren Verständnis gibt es keine, man muss sich für eine Seite entscheiden oder verunsichert weiterlesen. Das Buch wird somit zum Spiegel für den Leser, der alle Freiheiten hat und sich dabei auch mal überfordert fühlen darf.

Während der Lektüre stellt sich oft die Frage, ob es sich bei David wirklich um den jungen Jesus handelt, ob der Autor dessen Kindheit in heutige Verhältnisse transportieren und darstellen wollte, oder ob die Geschichte nicht vielmehr den Glauben an das Göttliche in Menschenform behandelt. David beweist keinerlei Göttlichkeit, er vollbringt keine Wunder, er leistet eigentlich gar nichts, trotzdem sind ihm alle verfallen, verehren ihn als außergewöhnlichen Menschen. Dies ist die einzige Gabe, die der Junge besitzt, er kann die Menschen für sich vereinnahmen, sie geradezu verzaubern, er kann sie zu seinen Anhängern machen, ohne Mühe. Und hier liegt der Reiz der Erzählung, die den Glauben darstellt als Quelle für höheres Streben und niederen Betrug – sollte David später zu dem werden, der als Jesus Christus in die Geschichte der Bibel eingeht, so wäre seine Magie in Kindesjahren das Wirken der Göttlichkeit in ihm und diejenigen, die sie erkennen oder ahnen, sind geleitet von einem erhabenen Ziel, nämlich dem Erlöser und seinen Idealen zu folgen; wenn es sich bei David aber um einen Jungen handelt, der vielleicht ungewöhnlich, jedoch keinesfalls göttlich ist, dann wirft dies ein dunkles Licht auf die Menschen jener Welt, die ohne Kraft und Ideen leben, die dankbar sind, wenn sie in einem Jungen, der nichts vollbracht hat, etwas sehen können, das über ihre eigene Existenz hinausgeht, ihr vielleicht Bedeutung verleiht. Der Autor spielt mit dieser Dualität schon im Namen des Jungen, welcher nicht Jesu, aber David heißt. David wurde gemäß den Aufzeichnungen in Bethlehem geboren, tötete Goliath und wurde später zum Herrscher über Juda und Israel, er ist eine der wichtigsten Figuren der Bibel und Jesus wird oft als Sohn Davids bezeichnet. Simon erinnert an Simeon, den Propheten, der in Jesus Christus den Messias erkannte.

Coetzee versteht es das Thema Glauben spannend zu behandeln, ohne selbst Position zu beziehen, er ermöglicht und erzwingt dadurch die Auseinandersetzung auf der Seite des Lesers, der nicht weiß an wem er zweifeln soll, am mysteriösen David oder seinen ebenfalls mysteriösen Anhängern. Es erscheinen jedoch auch Lücken in der Darstellung der Glaubensproblematik, die als Ganzes sehr gelungen ist. Wenn der Junge Jesu ist, wen soll er erretten? Die Menschen in der neuen Welt sind alle gleich, sie stehen außerhalb der Moral, sie handeln weder im Guten noch im Bösen und dürsten deshalb auch nicht nach einem Erlöser, der ihnen den Weg zeigt und alle Schuld auf sich nimmt. Eigentlich gibt es in Novilla niemanden, der den Messias erwartet. Überhaupt erwecken die Menschen den Eindruck nicht an Übernatürliches zu glauben, zu bodenständig sind sie dafür und deshalb verwundert es, wie beeindruckt sie von dem Jungen sind.

Philosophische Diskussionen bilden einen großen Teil des Buches, regelmäßig werden verschiedene Weltsichten verhandelt, Pro und Kontra wie bei einem Schulwettbewerb vorgebracht, es mag manchen Leser missmutig stimmen, wenn er das Gefühl bekommt, die Welt wird ihm erklärt, aber allzu verstimmt kann man doch nicht sein, da Coetzee es versteht diese geistigen Exkursionen im Rahmen zu halten und sie lebensnah gestaltet, nicht zu sehr ins Theoretische abschweift. Ärgerlich ist dann aber die Oberflächlichkeit, welche sich aus der Kürze ergibt. So wird Platos Ideenlehre mehrfach aufgegriffen, kann aber nicht hinauslangen über den Status eines Aperitifs, eines intellektuellen Häppchens, kurzen Genuss bietend, jedoch nicht in der Lage den Hunger zu stillen. Der Spagat zwischen philosophischem Anspruch und lockerer Lektüre ist nicht gelungen, bleibt ein Wermutstropfen in einem sonst sehr unterhaltsamen Buch, welches versteht, den Leser zu bewegen und herauszufordern. Etwas Besonderes.

Die Kindheit Jesu

John M. Coetzee, Fischer

Die Kindheit Jesu

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