Der schönste Gegenstand
Menschen haben vor keiner Krankheit soviel Angst wie vor Krebs. Die Krankheit macht die Begrenztheit unseres Lebens, der uns verfügbaren Zeit, bewusst, die Kostbarkeit des einzelnen Tages. Es gibt viel Literatur zum Thema, medizinische und psychologische Ratgeber, Bewältigungsliteratur von Patienten, die darüber berichten, wie sie den Krebs besiegten, Bücher, die zeigen, wie Menschen nach durchstandener Erkrankung ins Leben und zu sich selbst zurückfinden.
Ein weiteres Sujet ist das Tagebuch, in dem ein krebskranker Mensch die seelische Verarbeitung der Krankheit bis zum Tod dokumentiert. Das wahrscheinlich bekannteste Buch ist Christoph Schlingensiefs 2008 veröffentlichtes So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung.
Im März 2010 wurde bei Wolfgang Herrndorf ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert. Sieben Monate später begann der Schriftsteller seinen Blog Arbeit und Struktur, den er bis kurz vor seinem Tod als Tagebuch schrieb. Beim Lesen stellt sich der Eindruck ein, die Lektüre sei eine seltsame Form nicht von Sterbebegleitung, sondern Sterbebeobachtung.
Herrndorf ist in der Zeit seit der Diagnose hochproduktiv. An seinem ersten Roman In Plüschgewittern arbeitete er zehn Jahre, in den letzten drei Lebensjahren schreibt er den Jugendroman Tschick, den Thriller Sand, sein Blog, das zu dem Buch Arbeit und Struktur wird. Das Schreiben ist für Herrndorf die wirkungsvollste Möglichkeit, mit der Krankheit umzugehen, die sich jedoch nicht davon abhalten lässt, auf das Schreiben in den Bedingungen und den Inhalten zu wirken.
Struktur bringt er zuerst durch wiederkehrende Aktivitäten in seinen Alltag, Baden im Plötzensee, Spaziergänge, Fußballspielen, Filme ansehen, Bücher lesen.
Er liest viel, mehr seine alten Lieblinge, wie Stendhal und Karl Philipp Moritz, weniger neue Autoren. Die ihm liebsten Bücher der Jugendzeit, darunter Mark Twains Tom Saywer und Huckleberry Finn, münden in Tschick, sein erfolgreichstes Buch. Herrndorf lässt sich über Facetten des öffentlichen Lebens aus, zumal des Kultur- und Literaturbetriebes, übt Literaturkritik und Kritik an Literaturkritik, dokumentiert seine Aufenthalte im Krankenhaus und bei Ärzten, die Bürokratie, die ihn unabwendbar begleitet.
Sein Projekt Arbeit und Struktur trägt ihn ein Stück weit, dient ihm als Brücke, die Risse bekommt durch Momente der Verzweiflung und durch Angstzustände.
Natürlich ist Arbeit und Struktur ein bewegendes Buch. Der Frage, die bei einer lebensbedrohlichen Krankheit so oft gestellt wird: Warum gerade ich?, hält Herrndorf das Warum nicht? entgegen. Wichtiger als solche Fragen ist ihm das Bedürfnis, in der ihm verbleibenden Zeit nicht zwischen den Polen der Depression und der Manie zu oszillieren, völlig unkontrolliert zudem, sondern etwas Sinnvolles zu tun. Der lebensverneinenden Vollbremsung setzt er die Beschleunigung durch Arbeit entgegen. Das gelingt Herrndorf bisweilen sehr gut, gelegentlich ist dieser Werksabschluss auch heiter bis komisch, ein Buch, das auch die Klischees in der Auseinandersetzung mit der Krankheit reflektiert.
Wolfgang Herrndorf schreibt, der Revolver sei (neben einem anderen Gerät) der schönste Gegenstand, den er in seinem Leben besessen habe. Der Verlust der Selbstbestimmung auf einem normalen Sterbepfad ist eins der wichtigsten Themen in seinem Buch. Deshalb spielen Gedanken zu einer Exit-Strategie eine große Rolle, und in diesen Gedanken kann man die große Stärke des Buches sehen.
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