Orkan über Jamaika

  • Zürich: Dörlemann, 2013, Seiten: 252, Übersetzt: Michael Walter
  • New York: Modern Library, 1929, Titel: 'A High Wind in Jamaica', Originalsprache
Orkan über Jamaika
Orkan über Jamaika
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Sebastian Riemann
731001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2014

Über die Moral der Kinder im British Empire

Was passiert wenn blutrünstige Piraten einen Zweitjob als Babysitter annehmen? Werden die Kinder ohne Umschweife auf die schiefe Bahn gebracht oder legen die bösen Buben die Säbel nieder und spielen Verstecken? Im neu aufgelegten Klassiker von Richard Hughes treffen zwei Gruppen von Personen aufeinander, die kaum unterschiedlicher sein könnten, sich aber aufgrund schicksalhafter Verkettungen im gleichen Boot wiederfinden und zusammen ein Auskommen suchen. Die harte, harsche Realität der Piraten trifft auf eine unbekümmerte, verspielte Kinderwelt, die Abenteuer sucht, aber keine Angst kennt. Neben all den Wendemanövern in karibischen Gewässern wird dabei ein interessanter Gegensatz zwischen der zivilisierten Welt des Empire und dem Leben der Verbrecher dargestellt, man erfährt auch, was es damals hieß ein Mensch zu sein.

Die Thorntons leben auf Jamaika, weit entfernt von der feinen, gehobenen Gesellschaft in England, zu der sie eigentlich gehören und deren Lebensstil sie gewöhnt sind. Die Kinder wachsen in einem tropischen Paradies heran, welches jeglicher Etikette entbehrt und ihnen ungewöhnliche Freiheiten gibt. Die Eltern sind besorgt, dass die Kleinen zu wild werden, finden jedoch nicht die nötige Kraft, um etwas an der Erziehung zu ändern. Es bedarf eines gewaltigen Sturmes, um die Probleme der Familie aufzudecken und Veränderungen zu bewirken, ein Sturm so stark, dass er ihnen fast das Leben nimmt und nahezu alles zerstört, was sie besitzen. Von Angst getrieben beschließen die Eltern ihre Kinder nach England zu schicken, wo sie sicher sind und endlich die Erziehung genießen können, die ihnen niemand auf der karibischen Insel bieten kann. Alsbald wird das Schiff jedoch von Piraten geentert und das wahre Abenteuer beginnt, denn die Kinder sind fortan mit den Räubern der Hochsee unterwegs. Sie nehmen das neue Leben vorbehaltlos an, bequemen sich mit provisorischen Schlafplätzen, fehlender Hygiene, begeistern sich für das Schiff, die mitgeführten Tiere und arrangieren sich mit dem Captain und seinem ersten Maat, welche die Rolle der Erziehenden übernehmen. Für die Kinder sind sie lediglich diejenigen Erwachsenen, die ihnen sagen, was sie tun dürfen und was nicht. Überhaupt haben die Kinder wenig Interesse an allem, was über den Moment hinausgeht – sie sind noch keine richtigen Menschen, wie der Autor an einer Stelle erläutert, und haben keine nennenswerten Moralvorstellungen. Diese Eigenschaft der Kleinen wird anhand einer Szene in einer kubanischen Piratenstadt illustriert, in welcher der Bruder der Protagonistin Emily einen unerwarteten und plötzlichen Tod stirbt, was unter seinen Geschwistern und Freunden jedoch kaum bemerkt wird. Sie stellen seine Abwesenheit fest und begnügen sich damit, fragen nicht nach, trauern nicht, sondern vergessen bald, dass er jemals existierte. Das nächste Abenteuer ist alles, was zählt, zurückschauen und zweifeln gibt es nicht für sie: das wichtige Merkmal der Moral geht ihnen einfach ab, diesen kleinen Noch-Nicht-Menschen.

Die Zeit auf dem Piratenschiff hat nahezu magische Qualitäten, die Kinder scheinen überraschend schnell heranzuwachsen, ein Mädchen wird zur Frau, verlässt die Kinder und verbringt ihre Zeit mit den Matrosen, während Emily sich ihrer selbst bewusst wird und ein drittes Mädchen ihre religiöse Bestimmung entdeckt. Die Kinder verwandeln sich nicht in Wilde oder Mörder, haben vielmehr Raum um ihren neuen Tendenzen nachzugehen, da kein Vormund darauf bedacht ist, sie nach dem Muster feiner britischer Damen und Herren zu erziehen.

Die Wendung im Roman vollzieht sich auf leichte Weise, es ist vielmehr ein Unfall als ein wirklicher Mord, der das gesamte Unternehmen der Piraten zum Scheitern verurteilt und die Kinder wieder zurück in die zivilisierte Gesellschaft wirft. Völlig verängstigt tötet Emily einen Kapitän, dessen Schiff von den Piraten geplündert wird, zwar war er gefesselt, trotzdem vermochte er das junge Mädchen derart zu erschrecken, dass sie um ihr Leben fürchtete und nur einen Ausweg sah, nämlich dem vermeintlichen Angreifer zuvorzukommen und ihn zu erstechen. Emily weiß, dass ihr Handeln den Tod des Mannes zur Folge hatte, weigert sich aber die Tat zu gestehen, sondern schaut vielmehr zu, wie das Ereignis sich zur Katastrophe für alle Beteiligten ausweitet. Ihr Gewissen plagt sie, aber sie denkt nicht an die Möglichkeit ihre Schuld bekannt zu machen und den Menschen um sie herum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es ist erneut das Thema der Moral, die bei Kindern noch nicht ausgebildet ist, wie Hughes bereits argumentierte. Die Schuldigkeit des Kindes, welches Teil des British Empire ist, steht den Taten der Piraten gegenüber, welche entgegen ihrem Ruf keineswegs blutrünstig sind, sondern vielmehr Repräsentanten einfacher Menschlichkeit, die ohne Etikette und falsche Moral auskommt. Am Ende siegt nicht die Gerechtigkeit, sondern die Vorbehalte gegenüber Piraten, der Captain und sein erster Maat werden hingerichtet, da ein kleines Mädchen nicht schuldig sein sollte.

Hughes schrieb ein sehr unterhaltsames Buch über Piraten und Kinder, vermochte gleichzeitig aber auch Kritik an der damaligen Gesellschaft einzubauen, so finden sich Beispiele für Rassismus und Familienprobleme inmitten von tropischen Stürmen und majestätischen Schiffen. Beim Orkan werden die Thorntons Zeuge zweier Todesfälle, zum einen stirbt die Lieblingskatze der Kinder, zum anderen ein farbiger Angestellter, Letzterer wird kaum erwähnt, man misst ihm keinen Wert bei, während der Verlust der Katze ein schwerwiegender Schlag für die zivilisierten Engländer ist. Um so bitterer erscheint diese Szene, da sie unschuldig mit Kinderaugen betrachtet wird, die Trauer um die Katze so echt wie das Desinteresse am Angestellten ist. Ähnlich geht es beim Abschied im Hafen zu, da der Nachwuchs fasziniert vom Schiff ist und die Eltern bemerken, dass es zu keiner emotionalen Abschiedsszene kommen wird, dass überhaupt wenig Bindung zwischen den Familienmitgliedern besteht. Die Eltern, insbesondere die Mutter, befassen sich mit Pädagogik, mit der Theorie, nicht jedoch mit der Praxis, und so sind sie ihren Kindern fremd, so fremd, dass diese die Abwesenheit von Mutter und Vater kaum bemerken. Die zivilisierte Familie aus England wird damit entlarvt, vor dem Hintergrund der vermeintlichen Wildheit der Piraten, welche den Kindern mehr ans Herz wachsen als ihre Eltern.

Orkan über Jamaika

Richard Hughes, Dörlemann

Orkan über Jamaika

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