Wenn das Hirn ein Eigenleben führt
Ein Mann beginnt plötzlich seine Mitarbeiterinnen mit anzüglichen Bemerkungen zu traktieren, unterzieht sich Schönheits-Operationen, ist wie ausgewechselt. Eine Frau gerät in heikle Situationen, da sie einfach nicht in der Lage ist, sich Gesichter zu merken und Personen wiederzuerkennen. Wieder eine Andere trennt sich unerwartet von ihrem Freund, obwohl sie sich keinen besseren Mann vorstellen kann und ihn über alles liebt.
Unglaublich? Nein, denn alle diese Personen haben eine Gemeinsamkeit: Sie leiden an Hirnkrankheiten, die entweder ihre Persönlichkeit bereits verändert haben oder so starken Einfluss auf ihre Zukunft nehmen werden, dass sie sie vollständig aus der Bahn geworfen und in ein tiefes Loch haben fallen lassen.
Der Neurologe Christof Kessler erzählt in seinem Debütroman Wahn: Stories von Fällen, die ihm in all den Jahren während seiner Arbeit begegnet sind. Entstanden sind zwölf fiktionalisierte Geschichten, die so oder so ähnlich passiert sind und zeigen, wie sehr der Mensch seinem Gehirn im Fühlen, Denken und Handeln ausgeliefert ist, wie stark die Persönlichkeit von chemischen Reaktionen, äußeren Einflüssen und tückischen Krankheiten beeinflusst wird. Kesslers Roman beinhaltet ein breites Spektrum an Fällen. Ob Alkohol- oder Nikotinsucht, Medikamentenmissbrauch und daraus resultierende Wahnvorstellungen, frühe Demenz oder Gesichtsblindheit: Jeder Erkrankung gibt Kessler ein Ansehen und zeigt mit Hilfe von Fallbeispielen, welche Dramen sich für die Betroffenen abspielen können.
Christof Kessler, geboren 1950, ist seit 1992 Professor für Neurologie und seit 1994 Direktor der Klinik für Neurologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Sein Interesse gilt einer praktisch ausgerichteten, patientenorientierten Neurologie. Er organisierte unter anderem Veranstaltungen zum Thema Neurologie und Literatur und war wissenschaftlicher Berater bei der szenischen Umsetzung der Opernadaption von Oliver Sacks' Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Wahn: Stories ist sein erster Roman.
Prosopagnosie, Transiente Globale Amnesie oder CADASIL-Erkrankung, alles neurologische Begriffe, die den meisten Lesern - wenn überhaupt - irgendwann einmal begegnet sind, ihnen im großen und ganzen jedoch eher wenig sagen werden. Soviel: Bei Prosopagnosie handelt es sich um Gesichtsblindheit, bei Transienter Globaler Amnesie um vorübergehenden globalen Gedächtnisverlust und bei der CADASIL-Erkrankung um eine schleichende Demenz, mit der bereits ab dem 50. bis 60. Lebensjahr zu rechnen ist. Was hier recht trocken und abstrakt erscheint, verwandelt Christof Kessler in seinem Debüt zu zwölf spannenden Kurzgeschichten, in der er jeweils die Geschichte eines Patienten mit einer neurologischen Erkrankung erzählt. Jede Hirnkrankheit bekommt bei ihm ein Gesicht, wird zu einer lebendigen und greifbaren Person, deren Gedanken und Gefühle miterlebbar werden. Dadurch, dass Kessler sich in jeder seiner Geschichten zunächst auf seinen jeweiligen Protagonisten konzentriert, fällt es nicht schwer, sich mit den einzelnen Charakteren zu identifizieren. Doch Kessler bietet mehr: Er erzählt auch die Sicht der Mitmenschen und die der Ärzte, was den besonderen Reiz der Geschichten ausmacht. Einfühlsam und ehrlich geht er auf die verschiedenen Perspektiven mit ihren spezifischen Sorgen und Ängsten ein, schildert die Problematik von Diagnosen, die Verzweiflung, die mit einem schlechten Ergebnis einhergeht und die unterschiedlichen Umgangsweisen mit den daraus resultierenden Zukunftsaussichten. Sprachlich schlicht und gut verständlich gelingt es ihm in seinen kurzen Episoden, den Leser ganz in das Schicksal der einzelnen Personen eintauchen, sie mitfiebern zu lassen, mit der Realität zu schockieren oder der Faszination des Unbegreiflichen auszusetzen. Denn: Außenstehenden fällt schwer, nachzuvollziehen, warum Menschen etwa Gesichter nicht wieder erkennen können. Dass Hirnerkrankungen auch Ärzten noch immer viele Rätsel aufgeben, wird spätestens dann deutlich, wenn Kessler mit ungewöhnlichen Ausgängen und Wendungen in seinen Stories überrascht, die einen nachdenklich bis ratlos zurücklassen. "Schrecklich komisch", wie es im Klappentext heißt oder "Miniaturdramen von existenzieller Wucht" trifft es am besten!
Alles in allem ein empfehlenswerter Roman, der einem vor Augen führt, wie hilflos der Mensch auch heute noch gegen die Macht der Natur ist und wie wenig Einfluss er im Endeffekt über sein eigenes Denken, Handeln und Fühlen haben kann. Gleichzeitig zeigen einige seiner Fälle aber auch, dass viele scheinbar ausweglos erscheinende Prognosen ganz anders verlaufen können. Zumindest eins wird klar: Das Hirn hat viele Überraschungen zu bieten!
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