Mélodie d´amour
- Carl Hanser
- Erschienen: Januar 2014
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- München: Carl Hanser, 2014, Seiten: 384, Übersetzt: Helga van Beuningen
- Amsterdam: De Bezige Bij, 2013, Titel: 'Mélodie d´amour', Originalsprache
Liebesleid
In ihrem neunten Roman Mélodie d'amour erzählt Margriet de Moor in vier Teilen mit vier verschiedenen Erzählfiguren vom Leiden an und durch die Liebe.
Der 58-jährige Gustaaf Doesburg-Maas liebt seine Frau Adriana Maria (Atie), mit der er die Söhne Kaspar, Wijnand, Jan und Luuk hat. Atie nimmt in den 1950er Jahren Marina, Anfang dreißig und fünfzehn Jahre jünger als sie, als Untermieterin auf, die ihre beste Freundin wird. Gustaaf betrügt Atie mit Marina, die ihren Kinderwunsch durch ihn erfüllen lässt und die Tochter Edith Carolien (Dittie) bekommt. Als Atie schwer erkrankt, sorgt Gustaaf für sie, bis sie die Situation nicht mehr ertragen kann. Im Juli 1963 wird die Ehe geschieden. Eine Zeitlang lebt Gustaaf allein mit Hund, kurz vor Weihnachten 1963 zieht er mit Marina, Dittie und Hund zusammen. Als Atie stirbt, zeigt sich, dass Gustaaf sie über den Tod hinaus liebt. Diese Geschichte von Luuks Eltern erzählt der erste Teil ("Sein Vater, seine Mutter").
Protagonistin des zweiten Teils ("Sein jämmerliches Weibsstück") ist Luuks Geliebte Cindy, kurz vor vierzig, unverheiratet, Lehrerin für klassische Sprachen, eine Frau, so sie selbst, die funktioniert, kein Krankheitsfall ist.
Der dritte Teil ("Ihr Bruder") handelt von Roselynde Boon, einer Geliebten Luuks, erzählt aber nicht von der Beziehung zwischen beiden, sondern von der Liebe zu ihrem verstorbenen Bruder Rogier, der acht Jahre älter war als sie. Roselynde, geboren 1942, denkt im Juni 1992 zurück an ihre Kindheit mit Rogier und an ihre gescheiterte Ehe mit Rogiers Freund Arthur.
Der vierte Teil ("Myrte") gibt Luuks Frau Myrte Raum. Luuk und Myrte führen eine eher langweilige Ehe. Während eines Wanderurlaubs in Friesland erinnert sie sich an ihre erste Liebe, die Zeit, als sie siebzehn war und Schwesternschülerin.
Perspektiven auf die Liebe
Die erste Geschichte hat einen Erzähler in der dritten Person, der nicht allwissend ist. Sie ist bestimmt durch Motive des Wiederaufbaus in den 1950er Jahren und handelt von einer Liebe, die scheitert, ohne zu verglühen, und von einer Ehe, die vielleicht mit Liebe zu tun hat.
Die folgenden drei Geschichten werden in der Ich-Form von den drei Protagonistinnen erzählt. Die sehr emotionale Cindy betrachtet Luuk als ein Geschenk, "das einer Frau nur einmal im Leben zuteil wird". Cindy steigert sich hinein in eine Obsession, die sie zu rationalisieren versucht. Daraus entsteht eine Art Ver-rücktheit, und es ist schwer zu verstehen, was Cindy antreibt.
Mélodie d'amour erzählt in vier Varianten von der Wirkung, die Liebe auf Menschen haben kann. Die Annäherung kann zur Liebe führen, zur Entfremdung, kann Nähe und Fremdheit zugleich erzeugen. Und immer stellt sich die Frage, wen oder was man überhaupt liebt: den Menschen, die Vorstellung von ihm oder ihr? Ist die Liebe ein Substitut für etwas, das man nicht erreichen konnte, ein Ausgleich für Frustrationen, für Verlust? Gustaafs Frau entfernt sich in jeder Weise, nur nicht räumlich von ihrem Mann. Cindy erlebt eine obskure amour fou, jedoch für sich, in ihrem Kopf also, wovon das Objekt ihrer Begierde nichts mitbekommt. Roselynde scheint an Luuk besonders zu lieben, dass er in Momenten ihrem verstorbenen Bruder ähnelt, den sie offenbar über alles geliebt hat.
Was die Liebe aushält
Spielarten der Liebe unterscheiden sich darin, wie verletzlich sie sind, ob kleine Anlässe für die Trennung ausreichen, unter welchen Bedingungen die Trennung möglich ist, mit oder ohne Krieg und Bürokratie, ob man für sie arbeiten muss oder sie sich einfach naturgegeben einstellt, ob sie bleibt, wenn man nicht aktiv für sie eintritt, oder irgendwann einfach abhanden kommt.
De Moor erklärt nichts, sie lässt Formen intensiver Liebe entstehen und distanziert sich auf seltsame Weise von ihnen. Es gibt keine Täter, keine Opfer, nur Triebkräfte, die sich schwer bestimmen lassen, wenn überhaupt. Einblicke in intime Momente des Lebens anderer Menschen, deren Denken und Handeln zum Teil offen gelegt wird. Manche Akteure versuchen die Liebe zu gestalten, andere befinden sich einfach in ihr, und sie können vielleicht nicht einmal sagen, wie sie hineingeraten sind.
Die verbindende Figur in den vier Geschichten ist Luuk Doesburg, der Sohn, der Ehemann, der Liebhaber der jeweiligen Hauptfigur. Er ist nicht ganz ohne Eigenschaften, aber warum er macht, was er macht, bleibt unklar.
Innenleben
Das erzählende Personal des Romans befindet sich in verschiedenen Zuständen der Liebe oder Trauer. Beide Zustände sind Filter, durch die die Charaktere ihrer Perspektive auf andere Personen und Ereignisse Gestalt geben, durch die sie versuchen, die Welt und sich zu verstehen.
De Moor erweist sich als Feinmechanikerin in der Gestaltung innerer Vorgänge, des Erinnerns, des Erlebens extremer Gefühle wie Hass und Trauer. Ihre Protagonisten erzählen manchmal von sich, als würden sie den Inhalt eines Films wiedergeben, den sie gerade gesehen haben. Wir lernen auf diese Weise das Seelenleben eines anderen Menschen kennen, der es im Moment der Vermittlung an uns filtert.
De Moor verwendet starke und wiederkehrende Metaphern, um etwas über die Charaktere zu offenbaren, einen Einblick in den Verstand der erzählenden Instanz zu geben, uns zu zeigen, welche Dinge den Personen wichtig sind. Erklärungen jedoch erhalten wir keine.
Menschen lassen sich auf die Liebe ein, und wir fragen uns, warum der Roman einen französischen Titel trägt. Weil das Klischee die Liebe und Frankreich hoffnungslos verknotet? Oder weil es nur ein sehr kleiner Schritt ist, genau genommen zwei Buchstaben, von der Melodie d'amour zur Maladie d'amour?
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