Mehr Pflichtlektüre als Lieblingsbuch
Der Augenblick ist unvergessen, als Walter Kempowski, gemeinsam mit seiner Frau Hildegard, die Lambertus-Kirche im niedersächsischen Kirchtimke betritt und sich als erstes jeglichen Applaus verbittet. Der sei nicht angebracht, nicht dann, wenn das Echolot Inhalt der Lesung ist. Gut 15 Jahre ist das jetzt her. Eingebüßt hat diese Fortsetzung der 1993 herausgegebenen Bände Das Echolot. Fuga furiosa nichts von seiner fesselnden Tragik. Knapp zwei Monate beinhaltet der Band: Januar und Februar 1945, eine Zeit, in der der Krieg mit all seiner Intensität, mit all seiner Gewalt und Wut durch das deutsche Reichsgebiet fegte.
Walter Kempowski (geboren 1929 in Rostock, gestorben 2007 in Rotenburg an der Wümme) war kein lauter Mensch. Die leisen Töne waren eher seine, wenngleich seine Ruhe oft mit Arroganz verwechselt wurden. Es passte zu dem Autor, der sich sein Nest im niedersächsischen Nartum geschaffen hatte, Applaus zu verbitten und die Zuhörer in der gut gefüllten Kirche verstanden auch bald, warum Lautstärke nicht etwa zu der Geschichte einer jüdischen Medizin-Studentin passt, die Angst hat, nicht weiter studieren zu dürfen. Oder die der Mutter, die sich um ihren Sohn sorgt, der an vorderster Front kämpft, oder die der Tochter, die sich fürchtet, ihren Vater nie wieder in die Arme schließen zu können.
So gedrückt die Stimmung in der Kirche auch war, so gebannt auch lauschten die Menschen, was das Paar Kempowski vorlas. Im Wechsel. Weil immer eine Stimme versagte. Einen Tag hatte sich das Paar heraus gesucht, einen, an dem Juden, Nicht-Juden, Alte und Junge, Täter und Opfer, Gesunde und Kranke, Unbekannte und Prominente zu Wort kommen sollten: Samstag, 13. Januar 1945. 1940 Tage seit Kriegsbeginn, 116 Tage bis Kriegsende. Eine verstörende Bilanz.
So notierte etwa Ernst Jünger:
"Ernstel ist tot, gefallen mein gutes Kind, schon seit dem November vorigen Jahres tot." Am 11. Januar 1945 abends, kurz nach neunzehn Uhr, erhielt Jünger die Nachricht und fügte in seinem Tagebuch hinzu, "er hatte das Bestreben es dem Vater gleich zu tun, hat es aber gleich beim ersten Mal richtig gemacht".
Nicht nur Ernst Jünger beklagte an diesem Tag den Verlust eines geliebten Menschen. In vielen Familien herrschte Leid und Elend. Ein junger Mann sei den Heldentod gestorben, teilt ein unbekannter Leutnant den Hinterbliebenen mit. "Warme Anteilnahme", steht unter der traurigen Botschaft. Mehr nicht. Auch ganz Alltägliches bot Anlass für Grübeleien. So stellt sich ein junger Mann die Frage, was er machen könne, sollte es keine Zigaretten mehr geben und ein weiterer bittet seine Mutter, die Kleiderschränke zu entrümpeln, um alles nicht Benötigte als "Volksopfer" zu spenden. Der Sohn lässt die Mutter wissen, "dass neue Heere ausgestattet werden müssen". Und der Reitanzug habe ohnehin nie gepasst.
Eine junge Jüdin notiert: "Die Todesmaschine läuft, Halbjuden werden abtransportiert." Sie wird ihre Freunde nie wieder sehen. Joseph Goebbels protokolliert am gleichen Tag, in Berlin verweilend: "Magda ist krank. Ein Unglück kommt selten allein."
Walter Kempowskis Echolot scheint weniger ein Lieblingsbuch, als eine Pflichtlektüre. Zu Lebzeiten wurde dem gebürtigen Rostocker stets vorgeworfen, dass er nach seinem viel gelobten autobiographischen Roman Tadellöser & Wolff (1975) nie wieder ein gutes Werk zustande gebracht habe. Weniger Literat, lauten die Gegenstimmen, als viel mehr Buchhalter der deutschen Geschichte sei er gewesen. Erst mit einem Essay in der FAZ verschaffte Frank Schirrmacher 1993 dem Autor größere Anerkennung als seriöser Schriftsteller.
Sicher sind seine Tagebuchsammlungen, Kempowskis gesamtes Wohnmuseum in Nartum, das "Haus Kreinenhoop", eine dokumentarische Aufbewahrungsstätte von Leben, keine Bücher, die sich in einem Rutsch durchlesen lassen. Sie sind – ob des grauenvollen Inhaltes wegen – oft nur in kleinen Dosen zu ertragen - was sie aber nicht weniger interessant macht. Kempowskis unzensierte Aneinanderreihung von Geschehnissen, seine Art Collagen zusammen zu setzen, machen seine Fuga Furiosa aus. Kempowski hat nicht bewertet, nicht gut und gut und böse und böse zusammen gefasst. Lediglich chronologisch sortierte er das Geschehen, womit ihm eine einmalige Sammlung deutscher Geschichte gelungen ist.
"Was Walter Kempowski hier unternimmt, ist so wagemutig und sammelwütig, dass einem vor dieser historischen Eigernordwand der Atem gefriert ..." Fritz J. Raddatz, Die Zeit.
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