Medusa

  • Berlin: Klaus Wagenbach, 2014, Seiten: 144, Übersetzt: Carsten Regling
  • Barcelona: Seix Barral, 2012, Titel: 'Medusa', Originalsprache
Medusa
Medusa
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Sebastian Riemann
771001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2014

Ein Dokumentarist des Grauens

Kunst und Verbrechen sollten weit voneinander entfernt sein. Wenn sie zusammengehen, werden Vorstellungen von Moral und Verantwortung erschüttert. Ricardo Menéndez Sálmon hat in seinem sechsten Roman – dem ersten ins Deutsche übertragenen – eine Figur geschaffen, die sich bereitwillig zum dokumentierenden Werkzeug von Schlächtern und Henkern machen lässt, gleichzeitig Kunst produziert. Ein Mann mit Kamera, der viele vor seiner Linse sterben sieht ohne ein einziges Mal einzugreifen, ohne zu protestieren. In seiner Arbeit zeigt er einen bewundernswerten Stil. Ein Buch über inneres und äußeres Leiden.

Prohaskas – so der Name des Protagonisten – erblickte das Licht der Welt und es verdunkelte sich schnell für ihn. Er wächst ohne Liebe auf. Die Mutter ist ihm gegenüber abweisend und der Vater ein Unbekannter, die Kindheit eine Qual und ein Sehnen nach Zuneigung, welche wieder und wieder verwehrt wird. In frühen Jahren versucht sich der ungewollte Sohn sogar im Freitod, scheitert aber und wird zurück in die ungeliebte Welt geholt. Trotzdem scheidet er von ihr. Er will fortan sein ganzes Interesse den Bildern widmen, sich auf das Beobachten und Abbilden der Welt stürzen, da er in ihrer Mitte keinen rechten Platz finden kann. Er ist bemitleidenswert. Später wird er als ein Mann dastehen, der keine Moral kennt. Die Kindheit will zeigen, wie ein früher Weg, den er nicht freiwillig wählte, ihn dorthin führte. Keine Entschuldigung, aber das Schaffen von Verständnis für eine Person, die Unmenschliches tun wird.
Er ist nicht der Einzige, seine Jugend fällt in die Zeit des Nationalsozialismus und viele begehen Verbrechen unter jenem Regime. Trotzdem ist er anders, sowohl in seinem Handeln als auch in seinem Umgang mit den Ereignissen. Er ist nahezu frei von Ideologie, die Motivation für seine Arbeit ist persönlicher Natur, er schließt sich nicht den allgemeinen Schlachtrufen an. Er filmt und fotografiert für das Propagandaministerium, Tod und Elend werden zu seinem Arbeitsalltag, er hält Hinrichtungen und das Leben von Lagerinsassen fest. Die Hand an der Kamera bleibt dabei ruhig, das Auge trocken. Prohaskas ist innerlich stumpf, anders ist seine Arbeitsroutine nicht zu erklären. Immer wieder tauchen Erinnerungsfetzen auf, verweisen auf den fehlenden Vater, die lieblose Mutter, während er von Termin zu Termin fährt, das Objektiv scharf stellt und keine Regung zeigt. Auf der anderen Seite der Kamera sterben und leiden sie.

Zwischen den zahlreichen Aufträgen für das Ministerium findet er hin und wieder Zeit fürs Zeichnen. Doch auch die künstlerische Freizeitbetätigung ist mit dem Tod verbunden. Die Opfer des Krieges bildet er ab und kurz nachdem er seine Mutter zeichnet, verstirbt diese. Es existiert eine persönliche und nahezu mystische Verbindung mit dem Jenseits, welches ihn umgibt. So verwundert nicht, dass sein Sohn nur wenige Wochen lebt bevor er seinen Vater verlässt und ohne Schuld aus der Welt scheidet. Prohaskas ist sich dieser Verbindung bewusst, seine Arbeit mag zu Beginn zufällig dem Tod und Elend gewidmet sein, doch bald werden sie zu seiner Bestimmung. Nach der Niederlage von Nazideutschland wechselt Prohaskas die Orte seiner Arbeit, aber das Motiv bleibt gleich. Seine Stationen beinhalten Francos Spanien, das atomar verwüstete Japan, die Militärdiktaturen Lateinamerikas. Er hat keine Angst, kein Mitleid und ein zerrüttetes Inneres, welches ihn antreibt immer weiter zu machen.

Medusa hat den Ton einer Reportage, sie zeigt den persönlichen Zugang eines Autors zum Thema und gewinnt ihren Inhalt aus seiner Recherche. Er stützt sich dabei auf das von Prohaskas hinterlassene Material als Dokumentarfilmer, Fotograf und Zeichner, aber auch auf seine Schriften, die Titel tragen wie Nach Diktat eines grausamen Gottes oder Kindertotenlieder. Wichtigste Quelle ist jedoch der Biograph Stelenski. Er war der engste Freund Prohaskas, vielleicht der einzige, und hatte die wohl beste Einsicht in das Wesen jenes kalten Beobachters.

Menéndez Salmón gibt seinem Buch durch dieses Stilmittel sehr viel Authentizität und kann Unsicherheit und Neugier beim Leser hervorrufen. Die Leerstellen in der Darstellung Prohaskas prägen das Leseerlebnis. Beständig ist man mit Mutmaßungen des Autors konfrontiert, weil sein Material lückenhaft ist, weil Prohaskas Antriebe und Umtriebe unklar bleiben. Es ist dies historisch glaubwürdig und ein Gewinn an Spannung. Die Rekonstruktion eines Lebens ist immer unvollständig und der Autor lässt sich nicht verführen ein komplettes Bild seines Protagonisten zu schaffen. Er erklärt dem Leser, dass bestimmte Jahre nicht rekonstruiert werden können, dass keine Aufzeichnungen existieren, die Auskunft geben können. Prohaskas wird hin und wieder vom Erdboden verschluckt. Ohnehin war er stets bemüht, dass er als Person vergeht und nicht der Nachwelt erhalten bleibt. Sein Biograph musste versprechen kein Bild von ihm zu veröffentlichen. Er wollte um jeden Preis verhindern selbst Teil der Welt der Bilder zu werden, wollte nie auf der anderen Seite des Objektiv erscheinen. Das Innenleben der Hauptfigur wird durch diese Leerstellen bereichert. Der Leser entscheidet, was er mit ihnen macht, er kann sie ausfüllen oder diesem außergewöhnlichen Charakter eine nebulöse Aura verleihen. Der Reiz der Figur wird vergrößert, weil der Leser an wichtiger Stelle allein gelassen wird. Ganz unproblematisch ist diese Wahl der Mittel jedoch nicht.

Die Größe und Bedeutung Prohaskas nehmen im Verlaufe des Buches zu, die moralischen Fragen, die an seiner Person hängen, werden immer drängender, weil mit ihnen keine möglichen Antworten entwickelt werden. Der Fotograf und Filmemacher wird zum Auge des Bösen, er verwandelt sich in eine Allgemeinheit, da er nicht nur Verbrechen der Nazis dokumentiert, sondern später auch in anderen Ländern. Der Autor will die Frage nach Verantwortung der Kunst vom einzelnen Fall lösen, will sie als abstraktes, psychologisches Rätsel darstellen. Deshalb wechseln sich Dokumentaraufträge mit persönlichen Schicksalsschlägen ab. Prohaskas muss immer wieder von der Welt verstoßen werden, damit er ohne Anteilnahme ihr Grauen festhalten kann. Die fehlenden tiefenpsychologischen Einblicke lassen diesen Erklärungsansatz jedoch oberflächlich erscheinen. Das Schema ungeliebt-und-deshalb-innerlich-tot wiederholt sich beständig und vermag nicht dieses große Thema über die Länge des Buches anregend darzustellen. Somit werden die Leerstellen in der Darstellung des Protagonisten auch zu einer Schwäche des Romans, der den Künstler und seine Verantwortung zu weit von den Details der Realität entfernt hat, um ihn noch verständlich machen zu können.

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